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Die Mittneunzigerin Editta Sherman war die Porträtfotografin des Hauses. Die Wände ihrer Atelierwohnung sind übersät mit Bildern: Cary Grant, Yul Brynner, Grace Kelly, Elvis Presley etc. ließen sich von ihr ablichten.

Foto: AP/Bebeto Matthews

Nichts ist mehr so, wie es einmal war in New York. Wo einst Musiker, Maler, Schriftsteller und Straßenphilosophen verkehrten, ist eine Mischung aus Business, Schickimicki und Society-Spielplatz entstanden. Die Büroräume in den gläsernen Wolkenkratzern gehören zu den begehrtesten der ganzen Stadt. Keine Schaufensterdekoration, die nicht auch einen Platz im Designmuseum verdient hätte. Alles ist edel, geschäftsmäßig und nichts mehr wirklich authentisch. Atelierwohnung 1208 ist eine Ausnahme.

Editta Sherman steht auf der Wendeltreppe und singt. Man fühlt sich wie auf dem Set eines Historiendramas. Die exzentrische Künstlerin trägt eine feuerrote Federboa, dazu ein langes, schwarzes Glitzerkleid aus den 1920ern. Immer wieder verfängt sich ihr Blick in einem der vielen Wandspiegel. Man sieht ihr nicht an, dass sie demnächst ihren 98. Geburtstag feiert. "Die Bewegung hält mich jung, ich springe jeden Tag Kordel!" , verrät sie und wirft dann kokett den Kopf nach hinten. Ihre Bewunderer nennen sie die "Herzogin der Carnegie Hall" .

La Bohème in Midtown Manhattan. Editta Sherman ist Teil der ältesten Künstlerkolonie der Vereinigten Staaten. Die "Carnegie Artist Studios" wurden 1895 durch den Stahl-Tycoon und Philanthropen Andrew Carnegie erbaut. Sie liegen direkt über der gleichnamigen Konzerthalle an der 7th Avenue, Ecke 56. Straße. Zahllose Künstler, die die amerikanische Kulturgeschichte des 20. Jahrhunderts prägten, haben in dem Komplex gelebt, gearbeitet, und sich aneinander inspiriert.

Sherman war die Porträtfotografin des Hauses. Die Wände ihrer Atelierwohnung sind übersät mit Bildern: Cary Grant, Yul Brynner, Grace Kelly und Elvis Presley und noch viele Berühmtheiten mehr ließen sich von ihr ablichten. Für Andy Warhol war die Fotografin zugleich auch eine Muse. Die Pop-Art-Ikone hat in den Carnegie Artist Studios einen Kurzfilm über sie gedreht. Sherman ist darin zu sehen, wie sie den sterbenden Schwan tanzt. "Dieses Pas de deux ist meine Paraderolle!" , sagt sie.

Jeder Bewohner hat seine eigene Geschichte. Josef Astor zieht an einer schweren Eisenkette, um das Oberlicht zu öffnen. Er ist begeistert wie eh und je von den einzigartigen Lichtverhältnissen in den Carnegie Artist Studios. "Du siehst sie nicht von der Straße aus, kaum einer weiß, dass es sie gibt, sie sind das bestbewahrte Geheimnis New Yorks!" , sagt er. Als Astor 1983 in die Künstlerkommune zog, hatte er keine Auftraggeber und ging durch eine kreative Krise. Heute ist er ein gefeierter Kunst- und Modefotograf. Renommierte Magazine wie The New Yorker und Vanity Fair reißen sich um ihn.

Seine persönliche Leidenschaft gilt dem Ballett. Oft findet man Astor im historischen Tanzsaal der Carnegie Artist Studios. Mikhail Mordkin, der Tanzpartner von Anna Pawlowa, eröffnete dort nach seiner Flucht aus der Sowjetunion seine Tanzschule und führte so das klassische Ballett in Amerika ein. Später führte der Raum dann Leonard Bernstein mit dem Choreografen Jerome Robbins zusammen. Aus dieser Kollaboration entstand das Erfolgsmusical On the Town. Bernstein arbeitete vor seinem großen Durchbruch als Probepianist für Robbins. "Aber es heißt, dass die Ballerinas ihn nicht mochten, weil er so schnell spielte" , lacht Astor.

Der Fotograf scherzt, aber zumute ist ihm dazu nicht. Denn der Tanzsaal, den er so sehr mag, befindet sich in einem hoffnungslosen Zustand. Das Parkett ist verstaubt und voller Löcher, von den Wänden bröckelt der Putz. Die geschichtsträchtigen Künstlerstudios verwahrlosen, weil das Management der Carnegie Hall sich nicht mehr um ihre Instandhaltung kümmert. Das Apartment, in dem Marlon Brando während der Filmarbeiten zu On the Waterfront wohnte, wird als Lagerraum benutzt. Auch Atelier 808, wo die erste Schauspielschule der USA ein Zuhause fand, ist nur noch ein Schatten seiner selbst: Überall stapeln sich Warenkartons.

Billy Lyons steht genau an der Stelle, wo er einst seinen ersten Monolog vor Wynn Handman rezitierte. Der legendäre Schauspiellehrer hat Stars wie Denzel Washington und Richard Gere ausgebildet. Er war der letzte Bewohner von Atelier 808. 2007 wurde Handman rausgeklagt. Sein Schüler Billy schäumt immer noch vor Wut. Das Management der Carnegie Hall wolle die Studios, die es mehr als 100 Jahre lang beherbergte, abschaffen, es gebe vor, dass es sie brauche, um ein neues, gemeinnütziges Musikinstitut für Kinder zu schaffen, sprudelt es aus ihm hervor, aber das sei nicht die ganze Wahrheit, er habe die Pläne gesehen: "Das Institut wird gerade mal 20 Prozent des Gebäudes einnehmen, 80 Prozent sind für lukrative Büroräume vorgesehen."

Ego-Trip und Vetternwirtschaft

Dollars statt Kunst und sterile Moderne statt Geschichtsbewusstsein. Die Bauarbeiten haben schon begonnen. Kaum eines der alten Künstlerstudios befindet sich noch im ursprünglichen Zustand. Atelier 906, das erst Mark Twain und dann dem späteren Präsidenten Theodor Roosevelt als Schreibstube diente, ist jetzt ein seelenloser Konferenzraum. In Studio 914, wo Barnett Newman die Farbfeldmalerei prägte, haben sich Telefonverkäufer eingenistet. Erschreckend ist auch, wer die treibende Kraft hinter dem Umbau ist: Sandford Weill gibt unumwunden zu, dass er von Musik lange nicht mehr verstand als das, was ihm die Band seiner High School vermittelte.

Der Chef des Carnegie-Verwaltungsrats gehört zu den reichsten und einflussreichsten Männern New Yorks. Unter seiner Führung stieg die Citigroup Mitte der 1990er-Jahre zum größten Finanzdienstleister der Welt auf. Weill hat in den vergangenen fünfundzwanzig Jahren 145 Millionen Dollar an die Carnegie Hall gespendet. Er mimt gerne den großzügigen Philanthropen. Billy aber spricht von Ego-Trip und Vetternwirtschaft. Der Vorstandschef erkaufe sich schlicht seinen Willen, seufzt der Schauspielschüler: "Das wurde uns spätestens dann klar, als wir erfuhren, dass er seinen Schwiegersohn als Architekten für das Projekt angeheuert hat - es gab nie eine öffentliche Ausschreibung."

Die Künstler haben vieles versucht, um die fadenscheinigen Machenschaften publik zu machen. Ihre Demonstrationen führten sie bis vor das New Yorker Bürgermeisteramt. Da die Carnegie Artist Studios sich in einem öffentlichen Gebäude befinden, könnte die Stadtverwaltung ihre Zerstörung verhindern. Doch Bürgermeister Michael Bloomberg ist ein alter Geschäftsfreund von Sandford Weill. Er unterstützt dessen Ambitionen mitten in der Rezession mit 40 Millionen Dollar an Steuergeldern. "Es ist schwierig, einer so gut vernetzten, wohlhabenden Institution wie Carnegie die Stirn zu bieten" , seufzt Billy, der sich gemeinsam mit den anderen Mietern einen langen Gerichtsstreit mit dem Management geliefert hat. Viele haben inzwischen aufgegeben, weil ihnen das Geld ausgegangen ist, und sich bereiterklärt, ihre Studios zu räumen.

Joseph Astor schleicht über die langen, dunklen Flure, die ein Vierteljahrhundert lang sein Zuhause waren. Der Fotograf konnte prominente Unterstützer wie John Turturro, Susan Sarandon und Robert De Niro für seine Sache gewinnen. Doch selbst das hat nichts genutzt. Auch er ist vor kurzem ausgezogen. Das Ende der Künstlerkolonie sei kaum noch zu verhindern, meint Astor und kommt dann auf den breiteren Kontext zu sprechen. Er betrachtet die Carnegie Artist Studios als Symbol für die auch ansonsten fortschreitende Kommerzialisierung New Yorks: "Wir sind nicht mehr die kreative Stadt, die wir einmal waren" , seufzt er.

Von den insgesamt 180 Ateliers über der Carnegie Hall ist nur noch eine Handvoll bewohnt. Editta Sherman gehört zu denen, die sich nicht vertreiben lassen. Und sie legt großen Wert darauf, allen Feindseligkeiten zum Trotz, ein Gefühl von Normalität zu waren. Jeden Tag bekocht sie die noch verbleibenden Nachbarn. Die robuste Mittneunzigerin ist stolz darauf, dass sie neben ihrer Fotografenkarriere auch stets eine gute Hausfrau und Mutter war. Fünf Kinder hat sie in den Carnegie Artist Studios großgezogen. "Ich lebe seit 60 Jahren hier, das ist mein Zuhause" , sagt sie.

Das Carnegie Management hat Sherman angeboten, ihr eine andere Bleibe zu suchen. Aber davon will die Fotografin nichts wissen. Sie hat keine Angst davor, den riesigen Komplex womöglich irgendwann ganz alleine bewohnen zu müssen. "Ich bin viel zu beschäftigt, als dass ich mich einsam fühlen könnte" , meint sie und greift dann vielsagend zum Telefonhörer. Ihr größter Wunsch ist es, einen Verleger zu finden, der ein Buch mit ihren Porträtaufnahmen herausbringt.

Sherman ist eine Frau, die den amerikanischen Traum nicht mit Geld, sondern mit ihrer Seele träumt. Wie lange es Menschen wie sie noch geben wird, ist fraglich. Immer weniger New Yorker können sich ihre Stadt leisten. Nach Angaben des Drum Mayor Institute for Public Policy muss eine vierköpfige Familie jetzt bis zu 135.000 Dollar im Jahr verdienen, um in Big Apple ein "normales Mittelklasseleben" zu führen.

Das können fast nur die erbringen, die an der Wall Street oder bei einer großen Anwaltskanzlei arbeiten. (Beatrice Uerlings, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 14./15. August 2010)