Johanna Rachinger, Hüterin des kollektiven Wissens in gedruckter und digitaler Form, hat keine Angst davor, dass das Internet die Räume der Nationalbibliothek leserfrei machen wird.

Foto: Andy Urban

Standard: Die Österreichische Nationalbibliothek hat vor kurzem mit Google einen Vertrag über die Digitalisierung ihrer Sammlung bis Mitte des 19. Jahrhunderts geschlossen. Ist das die Kapitulation der Gutenberg-Ära des Buchdrucks vor den Mächten des Online-Zeitalters?

Johanna Rachinger: Ich sehe das nicht als Kapitulation weil ich überzeugt bin, dass es das Buch als physisches Objekt weiterhin geben wird. Auch die Fotografie hat die Malerei nicht zur Gänze verdrängt, oder das Fernsehen das Kino. Ebenso wenig werden digitale Inhalte physische Bücher verdrängen. Aber das gedruckte Buch wird nicht mehr das beherrschende Lesemedium sein.

Standard: Die IG Autorinnen Autoren hat kritisiert, dass kein österreichischer Partner zum Zug gekommen ist und die Bibliothek ihre Bestände, zu denen sie aufgrund gesetzlicher Pflichtexemplare gratis gekommen ist, einem privaten Konzern zur Vermarktung zur Verfügung stellt. Ihre Antwort?

Rachinger: Ich verstehe die Anliegen der Verlage und Autorinnen und Autoren sehr gut, dass urheberrechtsgeschützte Werke auch wirklich geschützt werden müssen. Was wir an Google geben sind alles urheberrechtsfreie Werke. Es ist unser Auftrag, Wissen möglichst vielen Menschen zugänglich zu machen, die Menschen mit dem Wissen zusammenzubringen. Diesem Auftrag bin ich verpflichtet, und darum ist dieses Public Private Partnership mit Google ein Riesenschritt in der Demokratisierung des Wissens. Ein österreichischer Partner war weit und breit nicht in Sicht. Ich kenne niemand am österreichischen Markt, der soviel Geld in die Hand nimmt um unsere urheberrechtsfreien Werke zu digitalisieren. Diese Digitalisierung kostet die ÖNB keinen Groschen, und wir reden von ca. 30 Millionen Euro, Transportkosten und Versicherungskosten nicht mit eingerechnet. Die öffentliche Hand hätte das nicht finanziert. Alles was wir bis jetzt lukriert haben sind Minibeträge im Vergleich zu dieser Summe. Wir befinden uns aber auch in guter Gesellschaft. Erst vor ein paar Wochen hat die königliche Bibliothek in den Niederlanden ebenfalls einen Vertrag mit Google unterschrieben, kurz vor uns haben das die Nationalbibliotheken in Rom und Florenz getan, die Bayrische Staatsbibliothek vor zwei Jahren, ebenso die Library of Oxford: Es gibt immer welche, die vorne mit dabei sind und den Mut zum ersten Schritt haben, und andere, die abwarten.

Standard: Sind Sie bereit, den Vertrag mit Google offenzulegen, um das Kleingedruckte wie die Verwertungsbedingungen oder Auflagen prüfen zu können?

Rachinger: Es ist bei solchen Verträgen üblich, dass Vertraulichkeit vereinbart wird. Wir haben lange verhandelt und ein für die ÖNB sehr zufriedenstellendes Ergebnis erzielt. Google hat kein Monopol auf die Daten, sie werden auch über die digitale Bibliothek der ÖNB zugänglich sein und können auch an Europeana weitergeleitet werden. Bürgerinnen und Bürger können entscheiden, wo sie diese Inhalte einsehen, wenn sie befürchten, dass Google ihre Daten missbraucht. Das Wesentliche ist aber, dass die Inhalte für die Benützer kostenlos zugänglich sind, und das im Volltext. Das können wir selbst in unserem sehr intensiv genutzten digitalen Zeitungsarchiv nicht anbieten, weil wir uns das nicht leisten können.

Standard: Gibt es Überlegungen, beim Zeitungsarchiv mit Google nachzuarbeiten, um Volltext anbieten zu können?

Rachinger: Nicht jetzt, aber ich kann mir das vorstellen, sobald wir das laufende Projekt abgeschlossen haben.

Standard: Sie sagten, dass sich die Ära des gedruckten Buches als Leitmedium dem Ende zuneigt. Was bedeutet das für Bibliotheken als Sammler und Speicher des Wissens, dass es zwar weiterhin den vorhandenen Bestand gibt, aber immer weniger dazu kommt?

Rachinger: Im Moment spüren wir das noch nicht. Wir haben noch immer einen großen Zuwachs an physischen Beständen, die Frankfurter Buchmesse vermeldet jedes Jahr Rekorde bei Neuerscheinungen. Der jährliche Zuwachs an der ÖNB liegt bei etwa 50.000 Bänden.

Standard: Das heißt, das Volumen an 400.000 Bücher aus drei Jahrhunderten, die jetzt digitalisiert werden, kommt alle acht Jahre neu dazu?

Rachinger: Das kann man ungefähr so sagen. Aber das wird sich in den nächsten zehn Jahren ändern, die Zahl der physischen Bücher wird zurückgehen und die digitalen Inhalte werden mehr werden. Aber sammeln werden wir immer Beides, weil wir auch eine Archivbibliothek sind und Verantwortung gegenüber späteren Generationen wahrzunehmen haben. Die neuen Technologien bedeuten für uns eine große Herausforderung, der wir uns aber durchaus stellen. So archivieren wir seit März dieses Jahres auch das österreichische Web und sogenannte born digital Medien. Das ist wichtig und auch höchst an der Zeit wenn man bedenkt, dass es knapp 20 Jahre Internet gibt, aber die Inhalte weitgehend verloren gegangen sind.
Die Menschen wollen auch in hundert Jahren wissen, wie diese Republik im Jahr 2010 getickt hat. Wie gesagt, das ist eine Verantwortung gegenüber späteren Generationen, so wie Generationen vor uns auch für uns diese Verantwortung wahrgenommen haben.

Standard: Das wahllose Sammeln ist doch auch ein Fluch. Verschärft Online diese Problematik, weil noch mehr Trivialitäten publiziert und gespeichert werden?

Rachinger: Diese Frage haben wir uns gestellt, als wir begonnen haben das österreichische Web zu archivieren. Es erscheint ja auch viel Schrott und viel Unwichtiges. Aber es ist nicht die Aufgabe von Bibliothekaren, Inhalte zu bewerten und das wollen wir auch weiterhin so halten. Allerdings machen wir nur ein- bis zweimal im Jahr ein sogenanntes Web-Harvesting, alles andere würde unsere Speicherkapazitäten sprengen.

Standard: Briefwechsel haben uns, historisch gesehen, sehr viele Auskünfte gegeben. Sie zeigen uns eine Entwicklung, eine Sequenz. Wenn man jetzt nur an bestimmten Tagen einen Querschnitte aufzeichnet geht dieser Dialog, die Entwicklung verloren. In Medien und auf Blogs finden auch Diskussionen statt, die uns bei dieser Methode ganz oder teilweise verloren gehen. Wie kann man damit umgehen?

Rachinger: Wir stehen bei der Webarchivierung erst am Anfang, wir müssen sie gut ins Laufen bringen und vor allem auch die langfristige Archivierung sicherstellen. Sobald wir das gut bewältigt haben wird der Diskussionsprozess weitergehen. Dann können wir uns auch mit diesen Fragen beschäftigen. Wir sind eine der ersten Bibliotheken weltweit, die das Web archiviert, und es war eine gewaltige Herausforderung das umzusetzen, vor allem auch deshalb weil es kaum Know-how gab.

Standard: Wird diese Arbeit nicht fast zwangsläufig von großen Onlinekonzernen übernommen werden, die ohnehin diese Inhalte speichern?

Rachinger: Wir müssen uns bewusst sein, dass Bibliotheken nicht mehr die einzigen Informationsanbieter sind, was sie ja lange Zeit waren. Wir sind mittlerweile Anbieter unter vielen anderen. Das, was Bibliotheken aber zusätzlich einbringen können sind Nischenprodukte, also Inhalte die andere nicht haben, etwa unsere Handschriften oder Papyri. Um aber konkurrenzfähig zu bleiben, müssen wir uns radikal an die Lern- und Forschungspraktiken der Menschen anzupassen. Diese haben sich durch die modernen Suchmaschinen total verändert. Da müssen wir reagieren und Maßnahmen setzen, um die komplexen, oft kompliziert anmutenden Bibliothekssysteme begreiflicher zu machen.

Standard: Wenn Onlinekonzerne zunehmend zum dominanten Träger von Inhalten werden, wäre es nicht einfacher, wenn man sie gleich auch zur Archivierung gesetzlich verpflichtet, ähnlich wie Verlage Pflichtexemplare an die ÖNB abliefern müssen?

Rachinger: Die Frage die sich dabei stellt, ist, ob privatwirtschaftlich orientierte Unternehmen die langfristige Archivierung garantieren können. Und wenn ich langfristig meine, dann denke ich in Ewigkeitskategorien. Nationalarchive zumindest tun das. Für die Benutzer aber ist es zweitrangig, von wem sie die Informationen bekommen.

Standard: Haben große Bibliotheken wie die ÖNB noch eine führende Rolle in der Aufbewahrung des kollektiven Wissens, wenn sie nur noch eine von vielen Anbietern ist?

Rachinger: Die Bibliothek der Zukunft hat mehrere Funktionen. Wir werden weiterhin Anbieter von Informationen sein, müssen uns aber der Konkurrenz anderer Informationsanbieter stellen. Wichtig ist, dass wir unsere Inhalte so zugänglich machen, dass sie dem heutigen Benutzungsverhalten entsprechen, schnell, einfach, unkompliziert. Ein anderer wesentlicher Aspekt ist, dass die Bibliothek der Zukunft nicht nur eine Virtuelle sondern auch weiterhin eine physische sein wird. Wir haben in den letzten Jahren steigende Besucherzahlen in unseren Lesesälen, obwohl wir immer mehr über das Netz anbieten. Das zeigt uns, dass Menschen zunehmend auch Orte aufsuchen, wo sie zwar in Ruhe arbeiten, aber doch unter ihresgleichen sein können. Wahrscheinlich ein Phänomen der Internetgeneration, die ja meist nur virtuell kommuniziert. Wir reagieren darauf, indem wir den Aufenthalt in der Bibliothek so angenehm wie möglich gestalten - etwa mit einer eleganten Kommunikationslounge in der Getränke, Snacks und Zeitungen angeboten werden, oder aber auch mit möglichst viel Bewegungsfreiheit innerhalb der Bibliothek.

Standard: Aber Lesesäle sind doch eine merkwürdige Art von Vereinsamung, so wie allein sein mitten unter Leuten im Kaffeehaus.

Rachinger: Genau, wir brauchen diesen dritten Ort, Menschen leben zu Hause in der Wohnung, gehen in die Arbeit, und dann brauchen sie einen dritten Ort wie Kaffeehäuser, oder eben auch Bibliotheken. Wir müssen uns deshalb bei räumlichen Bibliothekskonzepten sehr genau überlegen, wie wir sie gestalten. Das stellt uns in der ÖNB immer wieder vor große Herausforderungen, weil unsere Möglichkeiten innerhalb der Hofburg begrenzt sind. Trotzdem ist es uns in den letzten Jahren gelungen, die Lesesäle stark den Bedürfnissen der Benützer anzupassen, indem wir sie mit Klimaanlagen, w-lane, behindertengerechten Zugängen, komfortablen Möbeln, guter Beleuchtung etc. ausgestattet haben. Wir haben aber auch großzügige Kommunikationsbereiche und eine moderne Kantine eingerichtet. Irgendjemand hat einmal gesagt, dass Bibliotheken auch eine Dorfbrunnenfunktion haben. Das hat mir gut gefallen.

Standard: Aber der Dorfbrunnen bietet vor allem ungesicherten Klatsch.

Rachinger: Na und? Menschen brauchen beides. Sie kommen zu uns wegen des Wissens und um zu Lernen, und dann gehen sie in die Kommunikationslounge, um sich zu unterhalten oder zu entspannen, lesen die Zeitung oder den Comic, den sie mitgebracht haben. Diese Funktion von Ruhe und Kommunikation werden Bibliotheken auch in Zukunft erfüllen.

Standard: Wenn Bücher nicht nur gedruckt, sondern auch elektronisch erscheinen, was hebt die ÖNB dann künftig auf?

Rachinger: Im Moment sammeln wir noch das gedruckte Buch, es sei denn es gibt nur eine digitale Ausgabe, dann wird diese gesammelt. Es wird aber zu diskutieren sein, ob das nicht umgedreht werden soll, weil es zukunftsorientierter ist und wir schon sehr viel Know-how in die Langzeitarchivierung investieren. Womit wir jedoch in einigen Jahren ganz stark konfrontiert sein werden ist die Finanzierung der Speicherung der Daten. Wir speichern immer mehr Inhalte, und das wird mit enormen Kosten verbunden sein. Mag sein, dass wir uns in ferner Zukunft physische Bücherspeicher sparen, aber die Kosten werden deshalb nicht geringer werden.

Standard: Haben Sie Sorgen, dass unterschiedliche elektronische Formate ein dauerhaftes Problem bleiben werden?

Rachinger: Ich habe großes Vertrauen in die technischen Entwicklungen. Wir müssen bei allem, was Langzeitarchivierung betrifft, am Ball bleiben, die Lesbarkeit der Daten immer wieder prüfen und Updates machen. Aber die Entwicklung ist so, dass wir darauf vertrauen können, das auch in Zukunft meistern zu können.

Standard: Es wird in der digitalen Welt künftig keine erste Luther-Bibel mehr geben - der nächste Luther schreibt sein Werk auf einem Computer, und die Datei schaut durch ständiges Kopieren in tausend Jahren noch so aus wie heute. Welche Rolle spielt für eine Bibliothek künftig noch das Original?

Rachinger: Ich bin überzeugt davon, dass es so etwas gibt wie die Aura des Originals, durch meine Arbeit bin ich oft damit konfrontiert. Es macht einen Unterschied ob Sie die Partitur des Mozart-Requiems als Kopie oder im Original sehen. Das Original berührt auf eine ganz besondere Weise. In der digitalen Welt gibt es keine Aura mehr, da geht es ausschließlich um Inhalte und wie schnell und einfach wir sie erschließen können. Das können diese neuen Medien leisten - aber das Original selbst, das wird es nicht mehr geben.

(Helmut Spudich, DER STANDARD/Printausgabe, 07./08.08.2010)