Der Oktopus ist ein Fortschrittsverweigerer. Kaum geschlüpft, wird er von seiner Mutter und seinen manchmal tausenden Geschwistern allein gelassen und ist völlig auf sich gestellt. Wie er die Miesmuschel knackt oder den Shrimp fängt, welcher Fisch ihn beißt und wo die Höhle liegt, in der er sich vor dem Angreifer verstecken kann - alles muss er selbst lernen und entdecken, und wenn er stirbt, geht all dies Wissen wieder verloren. Seit 250 Millionen Jahren, als der Oktopus erstmals durch die Meere trieb, hat noch keiner von den Eltern etwas mitbekommen auf seinen Weg.

Deutschen Fußballfans ein Graus, ist der Oktopus der Liebling vieler Meeresbiologen: Er gilt als das mit Abstand intelligenteste Weichtier, außerdem sieht er sehr gut, hat ein ausgeprägtes Gedächtnis und kann blitzschnell seine Farbe wechseln, wenn er bedroht wird. In jedem seiner Arme sitzen Nervenknoten, jeder Arm kann sich unabhängig vom enorm großen Oktopusgehirn bewegen. Der Achtfüßer merkt sich Gesichter, öffnet Schraubverschlüsse, spielt mit Bällen und benutzt als einziger Wirbelloser Werkzeuge - auf einem Niveau, das laut manchen Forschern einen Schimpansen blöd aussehen lässt.

Supertier Oktopus

Während des Menschen nächster Verwandter nur dann mit Stöckchen im Termitenbau stochert, wenn er Hunger hat, also nur ein direktes Bedürfnis mit Werkzeugshilfe befriedigt, plant der Oktopus voraus. Australische Forscher haben den Ader-Oktopus dabei gefilmt, wie er zwei halbe Kokosnussschalen einsammelte, die Menschen ins Meer geworfen hatten. Obwohl im Moment nutzlos, ja sogar lästig, schleppte das Tier die Nüsse über den Meeresgrund, um sie bei Gefahr wieder zu vereinen und sich darin zu verstecken. Forscher am Aquarium in Seattle haben einen Persönlichkeitstest für das Tier entwickelt. So sollen phlegmatische von verspielten, agressive von ängstlichen Kraken unterschieden werden.

Auch bei Aquariumsbesuchern ist der Oktopus beliebt: Nicht so hässlich wie sein beschränkter Cousin, der Kalmar, und nicht so affektiert hübsch wie das Seepferdchen, der Liebling aller Puppensammler, verströmt sein wabernder Körper sowohl die Exotik der Tiefsee als auch die Vertrautheit des Meeresfrüchtesalats; er vereint den treuen Blick des Dackels mit den lustigen Farbspielen des Chamäleons; und als einziges Tier in dem sonst unappetitlichen Stamm der Weichtiere greifen Menschen ihn freiwillig mit bloßen Händen an.

Exotisch wabernder Körper

Sorgen bereitet Zoobesitzern nur seine kurze Lebensdauer: Selten wird ein Oktopus älter als drei Jahre. Ein kleiner Trick hilft, den liebgewonnenen Kopffüßer etwas länger zu behalten: Nachdem der Oktopus das erste und einzige Mal in seinem Leben Sex hatte, fangen Drüsen in seinem Kopf an, ein Hormon auszuschütten, das dem Oktopus nachhaltig den Appetit verdirbt: Er hört auf zu fressen und verhungert. Entfernt man die Drüsen rechtzeitig, lebt er etwas länger.

Wer das Tier lieber essen als anschauen möchte, sollte vor dem Kauf erstens bei Kollegin Harrer auf Seite 10 nachlesen und zweitens die Oktopusarme genau inspizieren: Jeder Krake hat unter seinen acht Armen einen Lieblingsarm, mit dem es besonders viele Aufgaben erledigt. Wahre Feinschmecker bedenken, das dieser Arm kräftiger und daher in jungen Jahren mitunter wohlschmeckender, mit zunehmendem Alter aber zäher ist als die anderen. Auch den Oktopus beim Sex zu beobachten, kann die Wahl des Speisearms beeinflussen. Die Paarung läuft so: Das Männchen steckt mit dem zweiten Arm von links eine Samenkapsel in das Weibchen, die dort explodiert und die Eier befruchtet. Jeder sollte selbst entscheiden, ob er diesen Arm essen möchte.

Wahl des Speisearms

Die viel interessantere Art, an den Oktopus zu kommen, ist aber, ihn selbst zu erlegen. Die Angst, dabei an ein Monster zu geraten, ist trotz Fluch der Karibik unbegründet: Der größte Oktopus wird höchstens vier Meter lang. Der Schrecken der Meere ist Cousin Kalmar. Der kolossale Kalmar bringt es auf eine Länge von 14 Metern und ein Gewicht von 300 Kilo, an seinen Tentakeln hat er Stacheln. Obwohl bisher nur zweimal gesichtet, wird er von manchen Wissenschaftern nicht nur als größer, sondern auch viel gemeiner als der Riesenkalmar beschrieben. Nur den blaugeringelten Oktopus sollten ungeübte Jäger in Ruhe lassen. Während der Biss der meisten Kraken schmerzhaft, aber nicht gefährlich ist, ist jener des blaugeringelten Kraken tödlich: Er verspritzt ein ähnliches Gift wie der Kugelfisch, Gebissene werden gelähmt und ersticken.

Und sogar Vegetarier können mit dem Oktopus etwas anfangen, wenn sie auf Partys unangenehm auffallen wollen. Während ein "Virusse gibts nicht" nur mehr selten angebracht werden kann, bietet der Oktopus noch Belehrungspotenzial: Seine Mehrzahl lautet: Oktopoden. (Tobias Müller/DER STANDARD/rondo/06/08/2010)