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Die Männer liegen ihr zu Füßen und werden zu Fall gebracht:Patricia Petibon (Lulu) mit Thomas Piffka (Alwa).

Foto: APA/Gindl

Salzburg - Wie viel Verfremdung verträgt eine Oper? Darf die Regie ihre Handlung aufbrechen und die Illusion stören? Oder umgekehrt: Wie naiv sollen Opern gezeigt werden, was davon darf man für bare Münze nehmen, und was erfordert einen Zugang, der heutige Menschen in gleichem Maß bewegt wie in der Entstehungszeit?

Der ewige Streit um das Regietheater kreist um diese Fragen, die in Bezug auf das jeweilige Werk immer wieder etwas anders zu beantworten sind. Alban Bergs Lulu enthält diesbezüglich so etwas wie einen Freibrief. Denn im Prolog aus Frank Wedekinds Drama Erdgeist, das zusammen mit Die Büchse der Pandora die Geschichte des "wilden, schönen Tiers" enthält, wird klar, dass es sich um eine Theateraufführung handelt. Auch Einschübe des Komponisten in das Libretto spielen mit der Bühnensituation, diskutieren etwa explizit die Unmöglichkeit jenes Stücks, das gerade gezeigt wird.

Vera Nemirova hat schon mehrfach ihren Anspruch untermauert, Irritationen in ihre Inszenierungen einzubauen und Opernhandlungen weiterzuerzählen. Denkanstöße zu geben und gesellschaftliche Implikationen der Stücke aufzuzeigen erschien dabei zuweilen wichtiger als absolute Schlüssigkeit. Dennoch:Wer genau hinsieht, entdeckt bei ihr zwingende Handlungszusammenhänge, die auf genaue Analysen schließen lassen. Dass Lulu zu Beginn vor dem innig und prononciert singenden Maler (Pavol Breslik)als Engel posiert und am Ende als billige Hure auftritt, zeigt das Drama ihrer psychischen Entwicklung.

Patricia Petibon geht in der Titelpartie mit darstellerischer Souveränität und schlanker Stimme einen koloraturenreichen Weg vom spielerischen Umgang mit dem Tod ihrer Männer bis zur innigen Zuneigung, die sie ihrem Mörder entgegenbringt. Das Potenzial der Liebesfähigkeit wird auf subtile Weise erahnbar.

Auch Bergs Musik ist voller Bruchstellen: Marc Albrecht arbeitet mit den Wiener Philharmonikern ihre artifiziellen Züge ebenso heraus wie die Stilvielfalt zwischen Atonalität, Jazz und nachromantischem Schwelgen - filigran, elastisch atmend, fein gezeichnet. Dass das bei den Hörern ankommt, ist aber nicht immer garantiert: Ein riesiger Vorhang sorgt im ersten Akt dafür, dass viel Klang geschluckt wird.

Große dramatische Fallhöhe

Akustisch zweckmäßiger und optisch opulent wird Daniel Richters Bühnenbild, wenn er dann seine Bilder über die gesamte Breite der Felsenreitschule spannt: ein Meer bunter Fratzen und Bestien, einen Wald aus Baumskeletten. Den sparsamen Ausstattungsrest bilden neben dem unvermeidlichen Diwan ein fallender Phallus, später eine surreale Pyramide, aus der die Eindringlinge in Dr. Schöns Villa die Köpfe strecken, bevor sie umgekippt wird und jene Londoner Dachkammer darstellt, in die Lulu ihre Freier führt.

Klug kommentiert die Regie, dass der letzte dieser Kunden, Jack the Ripper, ein Wiedergänger Dr. Schöns ist, den Lulu tötete:Beide Male schreitet Michael Volle auf dieselbe unwirkliche Weise davon. Im Übrigen ist er nicht der gesetzte Bürgerliche, als der er sonst gezeigt wird, sondern ein wilder Naturmensch, der dem robusten Athleten (Thomas Johannes Mayer ) ähnelt.

Wie sehr der Komponist Alwa für Berg eine Identifikationsfigur gewesen sein mag, arbeitet die Regie deutlich heraus: Wenn Thomas Piffka mit heldischem Glanz seine Hymne auf Lulu anstimmt, komponiert er offenbar wirklich, bringt die Musik zu Papier, die gerade erklingt. Das etwas abgenutzte Mittel, das Geschehen in den Zuschauerraum zu verlagern, setzt Nemirova mit Geschick ein:Wenn sich die Szene im von Friedrich Cerha komplettierten 3. Akt nach Paris verlagert, öffnen sich Nebenstränge, retardiert die Entwicklung. Dem wirkte der Aktionismus im Auditorium entschieden entgegen. Während der burschikose Groom (Cora Burggraaf) als Platzanweiser fungierte, sorgte Franz Grundheber als eindringlicher Schigolch für Heiterkeit, indem er sich für die Regie entschuldigte. Dadurch vergrößerte sich die dramatische Fallhöhe zur Tragik des Schlusses, auch weil dieser entrückt wirkte.

Gräfin Geschwitz (Tanja Ariane Baumgartner) wird nicht ermordet, sondern singt aus dem Off: schlicht bewegend. (Daniel Ender, DER STANDARD/Printausgabe, 03.08.2010)