Ansgar Mayer: "Wir müssen alle so schnell wie möglich damit aufhören, das Web als 'da draußen' zu betrachten."

Foto: Axel Springer Akademie

Zwar nicht vor Ort, aber doch mitten drin: Das Springer-Projekt "This is South Africa".

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Taugt das Social Web für journalistische Storys? Das wollten 20 Journalistenschüler der Axel Springer Akademie während der Fußball-WM herausfinden, indem sie für das Projekt "This is South Africa" ausschließlich Quellen aus sozialen Netzwerken nützen. Das Experiment ist gelungen, resümiert Ansgar Mayer, Crossmedia-Leiter der Axel Springer Akademie, im E-Mail-Interview mit derStandard.at. Mayer erklärt, wie man Quellen aus dem Social Web auswertet und prüft und warum "'Agenda Setting' aus der hohen Warte des Torwächters in der heutigen Kommunikationswelt nicht mehr möglich ist". Zudem zeichnet sich das nächste Projekt ab, denn auch am iPad müsse Journalismus inszeniert werden.

derStandard.at: Zur WM 2010 startete die Axel Springer Akademie das Projekt "This is South Africa - Live aus dem Social Web". Als Quellen wurden ausschließlich Blogs, Facebook, Twitter oder YouTube genützt. Ist das Experiment gelungen? Wie lautet Ihr Resümee?

Mayer: "This is South Africa" war ein Experiment von Team 7 der Axel Springer Akademie. Und dieses Experiment ist auf jeden Fall gelungen, was in erster Linie an unseren Journalistenschülern liegt, die sich mit großem Engagement an die Aufgabe gemacht haben. Unsere Leitfrage für dieses Projekt war: Ist das Social Web belastbar genug, um als Basis für andere, authentischere journalistische Storys zu fungieren? Hier ist die Antwort ganz klar: ja. Wir haben unseren Usern das Leben rund um die WM in Südafrika nahe gebracht und dabei ausschließlich soziale Plattformen als Quelle benutzt, ohne auf journalistische Qualitätsstandards zu verzichten.

derStandard.at: Wie ist die Arbeit in der Redaktion abgelaufen?

Mayer: Das ist das Interessante: In den Strukturen sehr klassisch, aber mit einer unglaublichen Taktung. Die Redaktion war beinahe rund um die Uhr besetzt, zwei Journalistenschüler teilten sich den CvD-Job und leiteten die Redaktionskonferenzen. Der große Unterschied war: die Kollegen gingen nicht mit fertigen Themen und Konzepten in die Konferenzen, sondern zogen aus der Web-Agenda ihre Story-Planung für den Tag.

derStandard.at: Wie bringt man Menschen im Social Web dazu, für einen zu recherchieren? Welche Anreize gibt es? Bezahlung?

Mayer: Moment - recherchieren müssen immer noch die Journalisten selbst, denn genau das ist ja unser Job: Quellen auswerten, auf Validität prüfen, Themenpakete erkennen und bündeln. In der Tat bildete sich im Laufe von "This is South Africa" eine eigene Community heraus, die sich besonders für das Projekt und das Portal interessierte. Und hier fand dann beispielsweise auch regelmäßiger Austausch mit Bloggern statt. Die Redaktion hat dann schon auch mal gefragt: Könnt Ihr uns zu diesem Posting auch Bilder liefern? Und ein paar interessierte Blogger erhielten leihweise eine Flipcam, um Videos produzieren zu können. Aber es waren keine Auftragsarbeiten und daher fand keine Bezahlung statt, das würde die Blogosphäre auch nicht akzeptieren.

derStandard.at: Haben Sie Unterschiede ausgemacht zwischen Facebook, Twitter und Co, gibt es Tendenzen, welche Quelle für Journalisten ergiebiger ist?

Mayer: Es gibt große Unterschiede zwischen den einzelnen sozialen Plattformen. Fangen wir mit Twitter an: das ist ein reiner, subjektiver, manchmal polemischer, unglaublich schneller Schlagzeilendienst, eine Art globale Shoutbox. Hier geht es um Zitate und Verweise - nirgendwo kann man schneller "rising topics" erkennen. Aber nirgendwo muss man auch vorsichtiger sein und genau gegenchecken. Facebook ist da schon allein deshalb verlässlicher, weil die Meldungen auf ein persönliches Profil rückführbar sind, eine viel stärkere Interaktion möglich ist und auch genauer nachgeprüft werden kann, wie zuverlässig eine Quelle ist. Übrigens ist auch genau das der Unterschied, den sich alle Kritiker des Social Web einmal bewusst machen müssen: den klassischen Informanten gibt es in der Mediengeschichte seit hunderten von Jahren. Aber erst im Facebook-Zeitalter ist es uns möglich, binnen Minuten ein konkretes Bild von ihm zu erhalten, den Informanten einordnen zu können. Neue Studien haben erst wieder belegt, wie wirklichkeitsgetreu die sozialen Profile jeweils sind. Neben diesen Communities und den Microblogs bleiben aber auch weiter klassische, persönliche Weblogs super-spannende journalistische Quellen und Formate.

derStandard.at: Jeff Jarvis kritisierte am Projekt, dass es ohne Anzeigen auskam, also der ertragreiche Aspekt fehlte. Was haben Sie ihm geantwortet?

Mayer: Die Journalistenschüler haben es sich leicht gemacht und gesagt: "This wasn't part of the job". Und das stimmt: Uns war schon in der Konzeption dieses Projektes klar, dass es sich um eine der größten Herausforderungen handelt, vor die wir bisher ein Team der Akademie gestellt haben. Will heißen: schon die journalistische Entwicklungsarbeit war dermaßen groß und neu, dass wir nicht auch noch einen Business Case daraus entwickeln wollten.

Essay from Axel Springer Akademie on Vimeo.

derStandard.at: Wenn der Journalismus überleben will, dann muss er raus aus der Sackgasse, muss sich neu erfinden, heißt es im Video-Essay "Reinvent journalism". Muss man Journalismus wirklich neu erfinden, oder reicht es nicht einfach, offen zu sein für das Neue?

Mayer: Auf so einen einfachen Satz will ich mich nicht einlassen, denn ein Journalist muss immer offen für Neues sein. Natürlich war das ein recht pathetischer Satz in dem Essay - aber er baut direkt auf der Erkenntnis auf, dass ein "Agenda Setting" aus der hohen Warte des Torwächters in der heutigen Kommunikationswelt nicht mehr möglich ist. Wir Journalisten müssen begreifen, dass Geschichten auch ohne uns ihren Weg finden und ein Massenpublikum erreichen können. Das erfordert ein komplett neues Denken, eine neue Art, Geschichten zu erkennen und Teil des Storytelling zu werden. Und deshalb bin ich überzeugt, dass es um ein Neu-Erfinden geht. Was bleibt sind die Anforderungen an eine gute Geschichte: Sprache, Neuheitswert und Haltung.

derStandard.at: "Journalisten müssen lernen, die Agenda zu finden und zu lesen", erklärten Sie in einem Gastbeitrag für meedia.de. Welche Kenntnisse braucht man als Journalist künftig?

Mayer: Man muss die neuen Recherche-Werkzeuge kennen und wissen, wie man diesen unfassbaren Infostrom ordnet. RSS-Feeds, Newsreader, Aggregatoren, Twitter-Clouds - ich muss mir als Journalist künftig eigene kleine Nachrichtenagenturen basteln, die das Social Web konstant nach allem filtern, was für mein Ressort, für meinen Job relevant ist. Wenn ich in diesem Material ertrinke, muss ich die Filter verfeinern. Und wir müssen alle so schnell wie möglich damit aufhören, das Web als "da draußen" zu betrachten. Wenn das Web "da draußen" ist - wo sind denn dann wir selbst?

derStandard.at: Als Beispiel, wie wichtig Social Media für den Journalismus sein kann, werden gerne die Proteste im Iran im Vorjahr und die Rolle, die zum Beispiel Twitter hier spielte, genannt. Aber wie verifiziert man Tweets? Welche Richtlinien gilt es zu beachten?

Mayer: Es gilt wie eh und je das Prinzip der zweiten Quelle. Hinter jedem Tweet steht ein Twitter-Kanal. Erste Fragen also: Wie alt ist dieser Kanal? Wieviele Abonnenten hat er? Welche Tweets hat er bisher abgesetzt? Zweite Stufe: Wer hat diesen Tweet weitergeleitet (Retweet) und wie zuverlässig ist wiederum dieser Kanal? Dritte Stufe: Wer meldet die Geschichte noch? Vierte Stufe: Wo sitzt der Twitterer? Wer in der Social Mediasphere ist in der Nähe und kann verifizieren? Das klingt unheimlich aufwendig, ist aber nur eine Frage von Routine. Und nochmal: Es funktioniert. Und zwar besser und sicherer als jemals in der Mediengeschichte, wenn man sich an diese Sicherheitsstufen hält.

derStandard.at: Was kann Journalismus aus dem Social Web nicht leisten?

Mayer: Das großformatige Einordnen und hintergründige Erläutern. Ich bin überzeugt, dass in absehbarer Zeit einer unserer Absolventen eine preisverdächtige Seite 3 für die "Welt am Sonntag" schreiben wird, die sich ausschließlich auf das Social Web stützt. Aber: Auch dafür muss ich als Journalist über Hintergrundwissen verfügen, einordnen, gewichten und komponieren können. Ich muss ein Erzähler sein.

derStandard.at: Sie schreiben im "asablog", dass Journalismus am iPad inszeniert werden muss und fordern Experten für iPad-Screenplay. Wird das ein neues Projekt der Axel Springer Akademie?

Mayer: Da haben Sie ins Schwarze getroffen, schließlich wollen wir nicht nur erstklassigen Journalismus lehren, sondern diesen auch machen. Daher können wir uns für die Zukunft gut ein derartiges Abschlussprojekt vorstellen.

derStandard.at: Über die App Flipboard sagen Sie, es sei wichtig, dass es sie gibt. Sehen Sie in Flipboard keine Gefahr für die Medienbranche?

Mayer: Beim Flipboard haben Programmierer die Stärke des iPads als Medienträger erkannt. Bei der Komposition von Geschichten können wir uns da einiges abschauen. Für das Flipboard, wie für alle anderen Neuerungen, gilt jedoch: Leistungsschutz- und Urheberrecht müssen beachtet sowie Quellen genannt und verlinkt werden. Solange dies geschieht stecken darin Chancen, die wir uns genau ansehen sollten. (Sabine Bürger/derStandard.at/29.7.2010)