Gesunder Menschenverstand zeigt sich, wenn man nicht auf jede Mode und jeden neuen Trend aufsteigt, sondern Abstand hält und sich ein eigenes Urteil bildet, so Olaf-Axel Burow von der Uni Kassel.

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Vermutlich wird unsere Zeit im historischen Rückblick als die des unablässigen Problematisierens und Reglementierens eingestuft. Hartmut Volk im Gespräch mit Kreativitäts- und Innovationsforscher Olaf-Axel Burow.

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Es ist zum Heulen. Überall Entmündigung und Selbstlähmung durch einseitige Experteneinschätzungen und Interessenpolitik. Gesunder Menschenverstand? Fehlanzeige! Dabei bräuchten wir nichts mehr als ihn, um zu einem entspannteren Leben zurückzufinden und all der instrumentalisierten Überproblematisierung und Dauerreformiererei den Garaus zu machen.

STANDARD: Professor Burow, was tun wir uns damit an, den gesunden Menschenverstand so außen vor zu lassen?

Burow: Wir entmündigen und entmachten uns selbst. Wir lassen uns von vermeintlichen, dazu meist noch selbsternannten oder von den Medien dazu beförderten "Experten" fortlaufend ins Bockshorn jagen. Wir erlauben ihnen, uns wie Kinder an die Hand zu nehmen und uns vorzuschreiben, was wir zu denken, zu tun und zu lassen haben.

Diese vermeintlichen "Experten" zeichnen sich in der Regel durch einen sehr spezialisierten und dadurch höchst einseitigen, außerdem nicht eben selten im Wesentlichen den eigenen Interessen dienenden Blickwinkel aus. Dadurch werden laufend Proble-me geschaffen, die in Wirklichkeit keine sind, oder Problemchen zu Problemen aufgeblasen. Auf diese Weise haben wir uns mittlerweile in einem Problemwust verstrickt, der schier unauflösbar erscheint. Dietrich Dörners Buch Die Logik des Misslingens müsste zur allgemeinen Pflichtlektüre erklärt werden. Es wird allerhöchste Zeit, dass wir uns frei nach Kant aus dieser unserer selbstverschuldeten Unmündigkeit befreien und uns wieder unseres eigenen Denk- und Urteilsvermögens bedienen.

STANDARD: Worauf beruht Ihre Überzeugung, der gesunde Menschenverstand könnte bei vielem erheblich nützlicher sein als das ganze Experten-, Berater-, Gutachter-, Konferenz- und Gremien(un)wesen?

Burow: Studien, wie sie beispielsweise James Surowieki in seinem Buch Die Weisheit der Vielen vorstellt, belegen: Das Wissen von Experten wird bedenklich überschätzt. In der Finanzkrise zeigte sich das dramatisch. Die Zeit fragte den obersten Bankenaufseher, was wir falschgemacht hätten. Seine aufschlussreiche Antwort: Wir haben zu sehr den mathematischen Modellen der Experten vertraut und zu wenig unserem gesunden Menschenverstand.

Die Forschung zeigt: Unter bestimmten Bedingungen ist das Urteil einer gut und differenziert informierten und nicht interessenmanipulierten Gruppe von mindestens 150 Personen dem von Experten in rund 90 Prozent aller Fälle überlegen.

STANDARD: Weshalb wird heute jeder, der auch nur näherungsweise auf der Basis gesunden Menschenverstandes pragmatisch argumentiert, sofort ausgegrenzt?

Burow: Weil wir in einer gläubigen, in einer wissenschafts- und expertengläubigen Gesellschaft versackt sind, der jedes beherzte Selberdenken und -urteilen ausgetrieben wurde. Die Meinungs-hoheit weniger, dafür aber Lautstarker hat erreicht, dass mehrheitlich geglaubt wird, was aufgetischt wird, und dass unverantwortlich handelt, wer sich dem offiziellen Pflichtglauben widersetzt.

Noch ein Buch, das dringend zur Pflichtlektüre erklärt werden müsste: Was zu bezweifeln war - Die Lüge von der objektiven Wissenschaft. Die Medien und das Internet überfluten uns jeden Tag mit aus dem Zusammenhang gerissenen Detailstudien. Diese Informationsvermüllung ist quasi eine Gehirnwäsche. Sie hat nichts mit Wissen oder ganz und gar Weisheit zu tun. In existenziellen Grundfragen, etwa wie wir uns gesundhalten können, sind wir - wenn wir unserer inneren Stimme vertrauen - auf einem besseren Weg, als wenn wir all den Ge-sundheits"experten" folgen, die sich mit unserer Gläubigkeit eine goldene Nase verdienen. Ob Arten- oder Waldsterben, Klimakatastrophe, Vogel- und Schweinegrippe oder böses Cholesterin - leuchtet man dahinter, erweisen sich diese Katastrophenszenarien als überzogen und schmelzen dahin wie Schnee in der Sonne.

STANDARD: Also erzeugen fehlender gesunder Menschenverstand und fehlendes pragmatisches Handeln eine enorme Fehlorientierung und binden und verschwenden Kräfte und Mittel?

Burow: Exakt das ist das Problem! Das täglich auf uns niederprasselnde Informationsbombardement mit all den zweifelhaften, auf jeden Fall aber aus dem Zusammenhang gerissenen Expertenansichten und -empfehlungen unterminiert unsere eigene Urteilskraft. Das macht uns in einem mittlerweile unfassbaren, auch unfassbar teuren Maß unselbstständig und beratungsabhängig, ja geradezu beratungssüchtig.

Wir glauben nicht mehr uns, unseren Erfahrungen mit unserem Körper, unserer Weltsicht, unseren Mitmenschen, sondern nur noch anderen. Ganz so, als hätten wir kein Gehirn mehr im Kopf. Allein mit völlig überflüssiger Beratung werden immense Mittel vergeudet.

Hinzu kommt: Je mehr wie unseren eigenen Verstand abschalten und uns auf fremden Rat verlassen, desto ohnmächtiger und hilfloser fühlen wir uns. Überall frei flottierende Ängste, die flott wieder genutzt werden, um daran zu verdienen. Siehe die explodierende Ratgeberliteratur. Ganz besondere Blüten zeitigt diese Abhängigkeit auch in der Kindererziehung. Dabei könnte jeder, der sich nur einen Moment an seine eigene Kindheit erinnert, wissen, was Kinder brauchen.

STANDARD: Professor Burow, nun die Gretchenfrage: Was ist denn gesunder Menschenverstand?

Burow: Alexander der Große, der mit einem beherzten Hieb den als unlösbar geltenden Gordischen Knoten durchschlug, an dem sich andere die Finger blutig gepult hatten. Mit anderen Worten: die praktische Umsetzung der Kant'schen Forderung, sich seines eigenen Verstandes ohne Leitung durch andere zu bedienen oder ohne permanent auf andere zu schauen. Also das Urteilen und Beurteilen auf der Basis eigener Erfahrungen und Überlegungen. Wenn Sie so wollen: die kritisch reflektierte und gewichtete persönliche Weltsicht oder -einschätzung als Handlungsleitlinie zu nehmen. Dazu gehört, sich bei schwierigen Problemen umfassend zu informieren und Expertenurteile mit einer - in den Jahren meist wachsenden - Portion Skepsis zu vergleichen. Die letzte Autorität, wenn es dann um die Entscheidung geht, bin - gemäß dem erwähnten Kant'schen Motto - ich selbst!

Gesunder Menschenverstand zeigt sich im Vertrauen in die eigene Urteilskraft, die Bereitschaft einschließend, dazuzulernen, sich umfassend selbst zu informieren, anstatt sich nur informieren zu lassen. Gesunder Menschenverstand im übertragenen Sinn ist sozusagen die persönliche Selbststeuerung.

STANDARD: Wie, worin zeigt er sich im praktischen Leben?

Burow: Im Forrest-Gump-Prinzip: Im gleichnamigen Film beginnt Forrest Gump, ohne klares Motiv zu laufen, und innerhalb kurzer Zeit schließen sich ihm tausende Anhänger an. Keiner weiß, warum, wohin und zu welchem Zweck. Weil so viele laufen, schließen sich immer mehr an. Das Problem entsteht, als Gump plötzlich stehen bleibt. Seine Anhänger sind irritiert, wissen nicht, was sie tun sollen ohne ihren Vorturner. Viele laufen einfach weiter.

Menschen mit gesundem Menschenverstand wären gar nicht mitgelaufen. Gesunder Menschenverstand zeigt sich nämlich darin, dass man nicht auf jede Mode und jeden neuen Trend aufsteigt: die neueste Managementmasche, die angesagteste Diät, das profitabelste Finanzierungsmodell, die Supermedizin etc. Menschen mit gesundem Menschenverstand halten Abstand, lassen sich Zeit zu prüfen, wägen ab, bilden sich ein eigenes Urteil und handeln dementsprechend selbstbestimmt.

STANDARD: Was müsste sich ändern, um den gesunden Menschen-verstand wieder zum geachteten Mitspieler im Problemlösungsgeschehen werden zu lassen?

Burow: Als Allererstes die völlig ausgeuferte irrationale Experten-, Wissenschafts- und Umfragegläubigkeit. Wir müssen wieder anfangen zu fragen: Wo wird wirklich etwas Allgemeinverbindliches gesagt und wo werden lediglich Bruchstücke geliefert, die weder zur Erkenntnis des Ganzen noch zu individuellen Handlungsanleitung taugen. Auch müssen wir wieder lernen, konsequent zu fragen: Cui bono? Wem nützt es? Wer hat einen Vorteil davon? Außerdem müssen wir stärker zwischen Theoriewissen und dem im Feuer der Praxis gehärteten Erfahrungswissen unterscheiden. Zu meinem Bereich gehört die Schul- und Organisationsentwicklung. Da erkennen wir täglich, dass Theorie und Praxis zwei paar Schuhe sind. Ich erinnere dazu noch einmal an Dietrich Dörner. Und auch daran: Gut gemeint ist selten gut getan!

STANDARD: Hat der gesunde Menschenverstand eine Chance, wieder auf die Beine und ins Spiel zu kommen?

Burow: Meine Erfahrungen aus dem Bereich der Organisationsentwicklung, in dem wir mit großen Gruppen aller Beschäftigten über Optimierungsmaßnahmen nachdenken, zeigen eine verblüffende individuelle, auf gesundem Menschenverstand fußende Kompetenz. Ausgestorben ist er also beileibe nicht. Viele teure, durch Theorie- und aktuelle Modegläubigkeit angestiftete unternehmerische Irrtümer ließen sich durch die Nutzung dieses gesunden Menschenverstands der Belegschaften vermeiden. Und ebenso viele dadurch ausgelöste, die Kräfte lähmenden Aufregungen!

In jedem Menschen steckt sehr viel mehr, als er selber weiß. Diese verborgenen Schätze, die in jedem von uns liegen, müssen wir freisetzen. Das mag etwas prosaisch klingen. Doch aufgrund meiner über 25-jährigen Erfahrungen in der Arbeit mit großen Gruppen weiß ich: In jeder Organisation steckt sehr viel mehr an Wissen und Weisheit, als deren Mitglieder wissen. In Ergänzung zum Expertenwissen - und manchmal auch anstatt - sollten wir öfter Verfahren nutzen, die das Wissen der vielen freisetzen und auch damit - wenn man so will - zur Rehabilitierung des zu Unrecht unterschätzten "gesunden Menschenverstands" beitragen. (DER STANDARD; Printausgabe, 24./25.7.2010)