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Foto: REUTERS/Howard Burditt

Südafrika, das sich 2010 als Gastgeberland der Fußball-WM präsentiert, ist auch eines der am stärksten von AIDS betroffenen Länder der Welt. Die Soziologin Melanie Berner hat 2006 in ihrer Diplomarbeit versucht nachzuvollziehen, wie die Verbreitung von HIV mit der südafrikanischen Gesellschaftsstruktur zusammenhängt - und warum Frauen dabei besonders benachteiligt sind. Ihre These: Gewalt gegen Frauen spielt bei der Ansteckung mit dem Immunschwächevirus eine ursächliche Rolle.

AIDS als "Lebensrealität"

40,3 Millionen Menschen auf der Welt waren 2005 mit dem HI-Virus infiziert. Die Verteilung der Betroffenen ist jedoch höchst ungleichmäßig, wie Melanie Berner gleich zu Beginn ihrer Diplomarbeit aufzeigt: Mehr als die Hälfte aller HIV-Positiven scheinen sich im südlichen Teil Afrikas zu befinden. Aktuelle Daten bestätigen diese Situation: Im "World Factbook" der CIA wird Südafrika weiterhin als das Land mit den meisten AIDS-Toten geführt. 2007 fielen dort 350 000 Menschen der Krankheit zum Opfer, geschätzte 5,7 Millionen waren infiziert - bei einer Gesamtbevölkerung von etwa 50 Millionen.

AIDS, so Melanie Berner, ist in Südafrika Teil der "Lebensrealität": Die Krankheit und ihre Verbreitung beeinflussen Wirtschaft, Sozialstruktur und das alltägliche Leben der Menschen. Große soziale Ungleichheit - die Hälfte der Bevölkerung lebt unter der Armutsgrenze2 - trifft in Südafrika auf mangelnde staatliche Gesundheitsversorgung, und in der Gesellschaft gilt AIDS nach wie vor als Tabuthema.

Die Autorin sammelt und vergleicht zunächst eine große Zahl empirischer Daten, die die Verteilung von AIDS im soziodemografischen Spektrum abbilden. Je gefestigter die Sozialstrukturen, desto geringer scheint die Infektionsrate zu sein; urbane und weniger gebildete Schichten der "schwarzen" Bevölkerung sind demnach am stärksten von HIV betroffen. Daneben verschiebt sich das geschlechterspezifische Gleichgewicht bei den Infektionsraten immer mehr zu Ungunsten der Frauen - ein weltweiter Trend, der auch in den Zahlen aus Südafrika ablesbar ist. Diesen Effekt hat Melanie Berner nun aus dem Blickwinkel einer feministisch gebildeten Soziologin beleuchtet.

Gender als Risikofaktor

Aufgrund von verschiedenen physiologischen und epidemologischen Faktoren ist die Ansteckungsgefahr bei Frauen von vornherein größer als bei Männern. Abgesehen von rein biologischen Unterschieden spielt aber auch das soziale Geschlecht eine wesentliche Rolle. Die erlernte Geschlechtsidentität südafrikanischer Frauen ist eng mit den Begriffen von Unschuld einerseits und Mutterschaft andererseits verknüpft. Bei sexuellen Kontakten wird von ihnen ein passives Verhalten erwartet. Durch solche Bedingungen wird Aufklärung erschwert und die Verwendung von Kondomen schon bei Jugendlichen stigmatisiert.

Erwachsene Frauen erwerben ihren Status vor allem durch Heirat und verlieren bei einer Scheidung ihre soziale Absicherung, auch die Gesundheitsversorgung. Innerhalb der Familie werden sie für die Geburt gesunder Kinder ebenso verantwortlich gehalten wie für die Pflege erkrankter Angehöriger, die oft zu Hause stattfinden muss. Die Missionierung der Region im Kolonialzeitalter hatte dazu beigetragen, ein "viktorianisches", sehr häuslich geprägtes Frauenbild in der südafrikanischen Gesellschaft zu verankern. Die lange Periode der Apartheid zwang zusätzlich vor allem "schwarze" Frauen nachhaltig in wirtschaftliche Abhängigkeitsverhältnisse.

Gewalterfahrungen und AIDS

Wirtschaftliche Not wiederum hat direkten Einfluss auf das Verhalten: So steigt bei ärmeren südafrikanischen Frauen die Bereitschaft zu bezahltem Sex mit wechselnden Partnern, wie Melanie Berner argumentiert. Die Autorin fährt fort, vorhandene empirische Daten zu analysieren, um dem kaum erforschten Zusammenhang zwischen geschlechterspezifischer Gewalt und AIDS auf die Spur zu kommen. Auffällig ist zum Beispiel, dass Südafrika auch bei der Zahl der (angezeigten) Vergewaltigungsfälle an der Weltspitze liegt. Allgemein ist Gewaltanwendung, speziell in der Form von "häuslicher Gewalt", weit verbreitet und scheint auch gesellschaftliche Funktionen zu erfüllen: Als Mittel zur Krisenbewältigung und zum Prestigegewinn vor allem für die männliche Bevölkerung.

Frauen, die in einer derartigen Gesellschaftsstruktur aufwachsen, gewöhnen sich früh daran, keinerlei Kontrolle über ihr Sexualverhalten auszuüben. Erzwungene sexuelle Kontakte erhöhen unmittelbar das Infektionsrisiko; im späteren Leben werden Menschen mit Missbrauchserfahrungen auch zu risikoreicherem Verhalten neigen. Die Infektion mit dem HI-Virus selbst ist wiederum ein soziales Stigma, die Betroffenen sind noch häufiger Gewaltakten ausgesetzt. Auf Basis dieser Hypothesen bearbeitet Melanie Berner eine große Menge von Daten, die sich aus Befragungen, statistischen Aufzeichnungen und wissenschaftlichen Sekundäranalysen speist.

Gewalt als Ursache?

Dass keine eindeutigen und oft sogar widersprüchliche Antworten aus dem Material hervorgehen, macht die detaillierte Besprechung nur noch spannender: Sind Frauen, die häufig missbraucht werden, "schüchterner" im Präventivverhalten? Oder werden gerade diese Frauen am nachdrücklichsten die Verwendung eines Kondoms einfordern? Ist Abstinenz ein Mittel zur Verhinderung von Geschlechtskrankheiten, oder erhöht sie nur die Bereitschaft zu Vergewaltigungen, die umso risikoreicher sind? Auch die unterschiedlichen Erhebungsmethoden, die dem verwendeten Material zugrundeliegen, unterzieht die Diplomarbeit einer kritischen Diskussion. Denn schon die Definitionen, wann Gewalt oder auch Sex vorliegt, weichen stark voneinander ab.

Der Autorin gelingt in dieser Arbeit eindrucksvoll, was im Titel angekündigt wird: Gewalt gegen Frauen als einen ursächlichen Faktor für die unkontrollierbare AIDS-Epidemie in Südafrika aufzuzeigen. Sie stellt fest, dass es keine "eindimensionale" Korrelation zwischen Erkrankung und Gewalterfahrung gibt, und bietet stattdessen eine Matrix von Zusammenhangsfaktoren als Ergebnis an: Persönlichkeit und Beziehung kommen ebenso zum Tragen wie der ökonomische und kulturelle Status der Einzelnen und der Gesellschaft insgesamt.

Die Diplomarbeit "Gewalt gegen Frauen als eine Ursache von HIV/AIDS in Südafrika. Eine soziologische Analyse" ist auf textfeld.ac.at im Volltext nachzulesen.