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Kardinal Godfried Danneels wurde mehr als zehn Stunden in Zusammenhang mit Missbrauchsfällen in der Kirche verhört - als "als Zeuge" nicht als Beschuldigter. Die Justiz bemüht sich offenbar, gegen die Kirchenführung wegen unterlassener Hilfeleistung ein Verfahren einzuleiten

Foto: REUTERS/Thierry Roge

Nach der Beschlagnahme vertraulicher Dokumente zum Kindesmissbrauch, die zum Rücktritt der Missbrauchskommission führte, erhöht Belgiens Justiz den Druck auf die Kirche. Die Polizei holte Kardinal Danneels ab

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Brüssel/Straßburg - Dreißig Jahre lang stand Kardinal Godfried Danneels, der frühere Erzbischof von Mechelen-Bruxelles, an der Spitze der katholischen Kirche in Belgien - bis zum Rücktritt Ende vergangenen Jahres. Der heute 77-Jährige galt sogar als "papabile", als Anwärter für das Papstamt. Bei den Gläubigen genießt er, ähnlich Kardinal König in Österreich, seit Jahrzehnten hohes Ansehen.

Zehn Stunden langes Verhör

Umso heftiger fällt nun die Irritation weit über Kirchenkreise hinaus aus, die das Land nach einer spektakulären Einvernahme des Kardinals durch die Staatsanwaltschaft am Dienstag erfasst. Mehr als zehn Stunden wurde Danneels am Dienstag in Zusammenhang mit Missbrauchsfällen in der Kirche verhört, von 9.30 Uhr bis in den späten Abend hinein.

Hunderte vertrauliche Dokumente beschlagnahmt

Erst vor einer Woche hatte die Auseinandersetzung zwischen Justiz und Kirche einen ersten Höhepunkt erreicht. Völlig überraschend wurden Hausdurchsuchungen beim Erzbischof und in der kirchlichen Missbrauchskommission durchgeführt. Hunderte vertrauliche Dokumente zu gemeldeten Missbräuchen wurden beschlagnahmt.

Vorsitzender der Kommission trat zurück

Der Vorsitzende der Kommission und Kinderpsychiater, Peter Andriaenssens, trat aus Protest zurück, weil die Arbeit der Kommission unter solchen Umständen "sinnlos" geworden sei. Der Papst protestierte, weil die Polizei auf der Suche nach "heißen" Dokumenten sogar Bischofsgräber öffnete, Bischöfen Kalender abnahm.

Erfolgsdruck nach rigider Hausdurchsuchung

Danneels sei "als Zeuge" angehört worden, betonte ein Sprecher der Staatsanwaltschaft, nicht als Beschuldigter. Die Ermittler stehen unter Erfolgsdruck, nachdem sich selbst der Generalstaatsanwalt und der Justizminister von dem rigiden Vorgehen des Untersuchungsrichters bei der Hausdurchsuchung distanzierten.

Kardinal steht unter Schock

Viel mehr an harten Fakten, welche Rolle genau der frühere Vorsitzende der Bischofskonferenz bei der angeblichen Vertuschung von Fällen von Kindesmissbrauch seit den 1990er-Jahren gespielt hat, wurden nicht bekannt. Danneels gab bisher keine Erklärung ab. "Er steht offensichtlich unter Schock", berichtete der Kinderpsychiater Adriaenssens, der zwischenzeitlich zu der Einvernahme beigezogen wurde, um ebenfalls als Zeuge auszusagen.

Spekulationen: Statt Justiz, Opfer zum Verzeihen aufgefordert

Umso dichter sind die Spekulationen in den Medien: Danneels habe ihm bekanntgewordene Missbrauchsfälle vertuscht, die Justiz nicht eingeschaltet, die Opfer zum Verzeihen aufgefordert. Er soll in 50 Fällen von Missbrauch Bescheid gewusst haben.

Geheime Unterlagen im Fall des Kinderschänders Dutroux

Auch soll er über geheime Unterlagen im Fall des Kinderschänders Marc Dutroux verfügt haben. Dieser hatte vor 15 Jahren systematisch Mädchen entführt und missbraucht. Vier waren im Kellerverlies gestorben, ein Fall, der Belgien bis heute nicht zur Ruhe kommen lässt.

Die Justiz bemüht sich offenbar, gegen die Kirchenführung wegen unterlassener Hilfeleistung ein Verfahren einzuleiten. Umgekehrt lässt der Generalstaatsanwalt prüfen, ob die Hausdurchsuchungen irregulär waren. (Thomas Mayer, DER STANDARD Printausgabe 8.7.2010)