Erhard Stackl, lange Chef vom Dienst des STANDARD, erhielt Freitagabend den Bruno-Kreisky-Preis für sein Buch 1989 - Sturz der Diktaturen (Czernin Verlag). Mit dem Vergleich der so genannten Wende in den Staaten des damaligen Ostblocks und dem Ende südamerikanischer Diktaturen wollte er zeigen, "dass sich Engagement auszahlt und manchmal sogar erfolgreich ist", sagte Stackl bei der Verleihung. Er habe "das Gefühl, dass die Phase, in der Bürgermut und Engagement als hoffnungslos romantisch und völlig sinnlos, ja sogar als kontraproduktiv betrachtet werden, vielleicht zu Ende geht". (red, DER STANDARD; Printausgabe, 3./4./7.2010)

Stackls Rede im Wortlaut:

Zur Auszeichnung seines Buches „1989 - Sturz der Diktaturen" (Czernin-Verlag 2009) mit dem Bruno-Kreisky-Preis für das politische Buch.

Von 1989 bis heute, von Havel und Walesa bis zu Obama und Gauck.

"Sehr geehrte Damen und Herren,

ich bedanke mich bei Ihnen und vor allem bei der Jury des Bruno-Kreisky-Preises für das politische Buch für diese Auszeichnung. Ich freue mich sehr über diese hohe Anerkennung. Und ich freue mich umso mehr, weil ich mit der Idee für dieses Buch über die Vorgeschichte von 1989 und den „Sturz der Diktaturen" zuerst nicht wirklich auf Verständnis gestoßen bin. 

"Und über Afrika schreibst du nichts?"


Als ich einschlägig Interessierten gesagt habe, dass ich das Ende des kommunistischen Herrschaftssystems im Ostblock mit dem Fall rechter Diktaturen in Lateinamerika vergleichen wolle, hat man mich gefragt: „Und über Afrika schreibt Du nichts?"

Darauf hätte ich sagen können, dass natürlich auch die Überwindung des unmenschlichen Apartheid-Systems in Südafrika etwas mit dem Ende des Kalten Krieges zu tun hatte. Aber mir war klar, dass man an meiner Grundidee zweifelte. Irgendwie hat ja alles mit allem zu tun, aber einen zwingenden logischen Zusammenhang erkannte man nicht. Deshalb sagte ich nur, „in Afrika war ich nicht. Ich habe aber selbst miterlebt, wie anfangs verbotene Bewegungen mutiger Oppositioneller 1989 in Osteuropa und auch in Südamerika die Überwindung autoritärer Systeme und die Schaffung parlamentarischer Demokratien mit freien Wahlen und Respektierung der Menschen- und Bürgerrechte erreicht haben."

Es war dann gar nicht so schwierig, mit dem Projekt weiter zu kommen. Ein halbstündiges Gespräch mit Herr Benedikt Föger vom Czernin-Verlag reichte und er hat das Buch angenommen, wofür ich ihm hier nochmals herzlich danke. Und als es dann vor etwas mehr als einem Jahr herausgekommen ist, war Dr. Gusenbauer der erste, der in einem Artikel meinen Vergleich von Ost und Süd positiv erwähnt hat.
Trotzdem schien ich damit auf weiter Flur allein zu sein.

Besonders aufgefallen ist mir das, als ich mit meiner Frau voriges Jahr und auch heuer wieder zur Leipziger Buchmesse gefahren bin, wo die Ereignisse vor zwanzig Jahren ein ganz großes Thema waren. Dort hat mich dann allerdings einiges irritiert.

So konzentrierte sich das Interesse von Verlegern und Autoren fast ausschließlich auf den „Mauerfall" und das Ende der DDR. Allenfalls der Beitrag Ungarns und damit auch Österreichs zur Öffnung des Eisernen Vorhangs kam vor, weil er die Flucht zehntausender DDR-Bürger in den Westen ermöglichte. Aber schon die wichtige Rolle Polens wurde kaum erwähnt, obwohl dort Bürgerrechtler in jahrelangen, gewaltfreien Anstrengungen demokratische Freiräume und dann sogar teilweise freie Wahlen erkämpft hatten. Die Polen mussten dann selbst darauf aufmerksam machen, sonst wären sie bei diversen offiziellen Gedenkfeiern in Europa glatt übergangen worden.

"Unsere Revolution"


In Deutschland fühlten sich wiederum die früheren Bürgerrechtler der DDR nicht ausreichend gewürdigt.
Im Volk herrsche die Meinung, die DDR sei pleite gewesen und Kanzler Kohl habe dann eben den Laden übernommen. So formulierte es Ehrhart Neubert, 1989 einer der Gründer des „Demokratischen Aufbruchs", der mit dem Buch „Unsere Revolution" eine umfangreiche Geschichte der Bürgerbewegung in der DDR geschrieben hat.


Wir waren dabei, als Neubert das Buch in der ehemaligen Stasi-Zentrale von Leipzig präsentierte. Er wirkte dabei merkwürdig defensiv, weil ihm vorgeworfen worden war, den Begriff „Revolution" falsch zu verwenden. Den im Volk gebräuchlichen Begriff „Wende" hat ja der Honecker-Nachfolger Egon Krenz geprägt, als er, viel zu spät, im Oktober 1989, eine tiefgreifende Reform der Einheitspartei SED ankündigte. Für ihn, sagte Neubert in der ehemaligen Stasizentrale, die bei den Leipzigern „die runde Ecke" heißt, für ihn sei „die Überwindung der Angst", die großen Demonstrationen der DDR-Bürger 1989 der „Zündpunkt einer Revolution" gewesen.


Mir war schon klar, worum es in diesem Begriffsstreit ging, auch wenn er mir selbst nicht so wichtig war. Wer das Wort „Wende" gebraucht, denkt an einen Zusammenbruch, an eine Implosion des alten Herrschaftssystems. Die „Revolution" betont die tragende Rolle der Gegner des Systems bei der Umwälzung der Verhältnisse. Meiner Beobachtung nach kam der Druck zur Aufgabe der Einparteienherrschaft überall von unten, nicht nur in der DDR, sondern sogar auch im reformkommunistisch geführten Ungarn. 


Aber Revolution? Da denkt man doch an Blutvergießen, an die gewaltsame Entmachtung einer herrschenden Klasse, von der französischen Revolution über Marx bis Mao...


Doch dann sprach der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Neubert über die theoretische Grundlage seines Revolutionsbegriffs, und das hat mich sofort elektrisiert. Er berufe sich auf Hannah Arendt, sagte er. Und die sehe eine „Revolution dort, wo es zum Sturz einer autoritären, diktatorischen Macht kommt, wo die Freiheit von einem Volk, von einer Gesellschaft errungen wird, und wo diese Freiheit durch Bildung von Institutionen befestigt und auf Dauer gestellt wird."


Ich hatte von dem Essay „Über die Revolution" schon gehört, den Hannah Arendt nach ihrem Buch über totalitäre Systeme und vor ihrem Werk über den Eichmann-Prozess Anfang der 1960er Jahre geschrieben hat. Gelesen hatte ich ihn aber nicht.

"On Revolution"


Als ich mir die deutschsprachige Ausgabe besorgen wollte, stellte ich fest, dass dieses Hauptwerk einer großen Denkerin erstaunlicherweise „out of print" ist. Also habe ich mir eine 2006 herausgekommene Neuauflage in englischer Sprache besorgt, die ja ohnehin die Originalsprache des Essays „On Revolution" ist.


Das Buch ist offensichtlich unter dem Eindruck der damals grassierenden Angst vor einem alles auslöschenden atomaren Konflikt geschrieben. Große Kriege hielt Hannah Arendt für die nächste Zukunft deshalb nicht mehr für vorstellbar, wohl aber Revolutionen, in denen es nicht um soziale Forderungen, sondern um die Freiheit gehe. 


Es steht dann noch viel Spannendes drinnen, z.B., dass nach Revolutionen oft für kurze Zeit Rätesysteme entstehen, von denen sich aber die politischen Parteien in ihrer Existenz bedroht fühlen. Für unseren heutigen Anlass halte ich es aber für interessanter, was ich im Vorwort der Neuauflage von „On Revolution" gefunden habe:


Dort schreibt Professor Jonathan Schell von der Universität Yale, dass die zumeist gewaltfreien Bewegungen, die von Polen über Chile bis Südafrika demokratische Regierungen durchsetzten, sich so entwickelt hätten, wie es Hannah Arendt beschrieben hat. Sie sollten deshalb als „Arendt'sche Revolutionen" oder „Arendtian Revolutions" bezeichnet werden.


Ende vorigen Jahres stimmte darin dann auch noch der Oxford-Historiker Timothy Garton Ash ein, den ich schon bei den Streiks auf der Danziger Leninwerft 1980 und in der Laterna Magika während der „Samtenen Revolution" in Prag getroffen habe. In seinem Sammelband „Civil Resistance & Power Politics", der sich mit gewaltfreien und ausgehandelten Übergängen von diktatorischen zu demokratischen Systemen befasst, kommt der chilenische Sozialist Ricardo Lagos, der als Pinochet-Gegner sein Leben riskiert hat und später demokratisch gewählter Präsident wurde, genau so vor wie Václav Havel.

Und es steht natürlich auch drinnen, dass die Freilassung von Nelson Mandela im Jahr 1990 etwas mit dem wenige Monate zuvor erfolgten Fall der Berliner Mauer zu tun hatte. In der späten Gorbatschow-Ära konnten weder die Verfechter des rassistischen Apartheid-Systems noch rechte, pro-westliche Diktatoren in Lateinamerika sich damit rechtfertigen, dass sie mit ihren harten Methoden den Ansturm des Weltkommunismus abwehren müssten.


Es ist meine Überzeugung, dass das Herausarbeiten von solchen Gemeinsamkeiten durch die Wissenschaft sehr wichtig ist. Denn es geht nicht um das „Perlentauchen", das auch Hannah Arendt vorgeworfen wurde. Es geht nicht darum, schöne Stücke der Geschichte zu heben, aneinanderzureihen und glänzen zu lassen. Es sollen vielmehr Gesetzmäßigkeiten entdeckt werden. Damit hätte man vielleicht erkennen können, dass ein Export der Demokratie in den von Saddam Hussein geprägten Irak nicht möglich ist. Man wüsste vielleicht besser, wie man sich zu den Oppositionellen und Bürgerrechtlern im Iran, in China oder in Burma verhalten soll.


Von vielen werden sie ja bloß als romantische Weltverbesserer betrachtet, die ihr Leben riskieren, ohne Aussicht auf die Verwirklichung ihrer Ziele zu haben. Aber das hat man über die aktiven Gegner der Diktaturen vor 1989 auch gesagt.


Es ist schon klar, dass sie nie Erfolg gehabt hätten, wenn nicht auch die entsprechende weltpolitische Konstellation eingetreten wäre. Aber sie haben von unten Druck gemacht und die Chancen genützt, die durch die Politik Gorbatschows und Reagans, die durch das Wirken des polnischen Papstes Johannes Paul II. geboten wurden.


Auch die Diplomatie hatte beim Aufbrechen der starren Blöcke von West und Ost einen wichtigen Anteil. Im Helsinki-Prozess, bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa, haben Diplomaten aus Österreich und aus anderen neutralen und blockfreien Staaten eine ganz wichtige Rolle dabei gespielt, von allen die Einhaltung der Menschenrechte zu fordern. Das hat für Dissidenten ganz wichtige Freiräume geschaffen.
Es gibt seit längerem eine Tendenz, die damalige Entspannungspolitik der europäischen Sozialdemokraten als mutlos und nur bei den Machthabern anbiedernd zu kritisieren. Ich glaube, dass auch diese Initiativen im Gesamtzusammenhang dazu beigetragen haben, die stumme Feindschaft in einen Dialog überzuleiten.


Vor einem Jahr hatte ich wieder einmal Gelegenheit, länger mit Lech Walesa zu sprechen. Ich habe ihn zu einer in Deutschland gerade wieder aktuellen Debatte über Willy Brandt befragt. Dabei ging es um den Vorwurf, dass Brandt als SPD-Chef 1985 bei einem Besuch in Warschau zwar General Jaruzelski getroffen hatte, nicht aber den im Untergrund aktiven Gewerkschafter Walesa, der wie Brandt Friedensnobelpreisträger war.
Die Haltung der Deutschen sei schon richtig gewesen, sagte mir Walesa im Juni 2009. Stärkerer Druck, gerade aus dieser Ecke, hätte wohl zu größerem Widerstand der polnischen Machthaber gegen Veränderungen geführt.

Über Walesa selbst ist schon sehr viel gesagt und geschrieben worden. Was mir wichtig war und was mir weiter wichtig ist, wäre es, möglichst viele der Männer und Frauen bekannt zu machen, die sich voll und ganz für den Kampf gegen die Diktaturen eingesetzt haben.

"Monopolsozialisten"


Ich habe mich immer jenen besonders nahe gefühlt, die sozial und demokratisch eingestellt waren. Darunter waren Aktivisten sozialdemokratischer Parteien, aber auch Sozialliberale und Chrisdemokraten. (Sozial eingestellte Grüne hat es zu der Zeit, von der ich spreche, erst in Spurenelementen gegeben.)


Nicht vergessen darf man auch ehemalige Kommunisten, die überzeugend zu Demokraten geworden sind. Das beste Beispiel dafür ist Jacek Kuron, der als KP-Mitglied die polnischen Kommunisten schon in den 1960er-Jahren als „Monopolsozialisten" kritisiert hat und dafür ins Gefängnis gesteckt worden ist. In den 1980er-Jahren hat Kuron zusammen mit Adam Michnik in Polen jene Stelle gefunden, die zum archimedischen Punkt zur Aushebelung des gesamten Systems wurde. Sie regten mitten im realen Sozialismus, der schon poststalinistisch und damit nicht mehr massenmörderisch war, die Schaffung freier Gewerkschaften und anderer unabhängiger Organisationen an, die nicht nach der Machtübernahme strebten, die aber auch nicht mehr zerstört werden konnten. Damit war das Machtmonopol der KP gebrochen.


In Ungarn haben mich die meist jungen Aktivistinnen und Aktivisten der demokratischen Opposition beeindruckt. Sie haben die KP-Funktionäre einerseits in fundierten soziologischen Analysen über die Massenarmut herausgefordert, andererseits mit Aktionen der Spaßguerilla deren Macht als hohl entlarvt.
In Chile war es spannend, den Wandel der im Untergrund agierenden Sozialisten zu beobachten, die sich von sehr weit linken Positionen im Lauf der Jahre immer mehr in die Mitte bewegt haben. „Marxistische" Parteien hatte Pinochet allerdings verboten und er bestimmte, wer für ihn ein „Marxist" war. Als es zehn Jahre nach dem Putsch von 1973 zu einer massiven Protestwelle gegen die Diktatur kam, waren es zunächst vor allem Gewerkschafter und entmachtete Politiker der Christdemokraten, die öffentlich gegen Pinochet auftraten.


Da war zum Beispiel Gabriel Valdés, der schon vor der Allende-Zeit, in den 1960er-Jahren, Chiles Außenminister gewesen war. An einem der Protesttage des Jahres 1983 stand ich in nächster Nähe, als der damals schon 64-jährige Parteichef der Christdemokraten versuchte, auf einem Platz in Santiago zu den Menschen zu sprechen. Es war wie in einem Gandhi-Film: Valdés kam, im Blazer und mit Krawatte, auf den Platz, er wurde mit Tränengas attackiert, und als er schwankte und von Freunden gestützt und weggeführt wurde, prügelten Polizisten mit Schlagstöcken auf sie ein.

Respekt aller Parteien

25 Jahre später bin ich Gabriel Valdés dann in Santiago wieder begegnet. Es war 2008 in der Moneda, dem Präsidentenpalast, wo die damalige sozialistische Präsidentin Michelle Bachelet für ihren Gast aus Österreich, Bundeskanzler Alfred Gusenbauer, einen Empfang gab. Als der fast 90-jährige Gabriel Valdés hoch aufgerichtet hereinkam, wurde es kurz ganz still. Er genießt heute den Respekt so ziemlich aller Parteien.

Etwas Ähnliches war voriges Jahr in Argentinien zu beobachten, nachdem der frühere sozialdemokratische Präsident Raul Alfonsin gestorben war. Alfonsin war 1983 als erster demokratischer Präsident nach Jahren der Militärjunta gewählt worden. Die Wahlbeteiligung von 80 Prozent wurde seither nie mehr erreicht. Doch seine Ära bis 1989 galt lang als Misserfolg. Es gelang ihm nicht, die Junta-Generäle und Folterer für längere Zeit ins Gefängnis zu bringen. Und mit seiner Sozialpolitik waren die peronistischen Gewerkschaften so unzufrieden, dass sie dauernd streikten. Im April 2009 zogen dann aber 70.000 Argentinier am Sarg von Alfonsin vorbei und nannten ihn den besten Präsidenten, den sie seit Ewigkeiten gehabt hätten.


1989 war ihm Saul Menem nachgefolgt, ein Peronist. Peronisten neigen zum Linkspopulismus und haben seltsame Ansichten, aber sie waren immer sozial. Sie haben als erste in Lateinamerika Arbeitnehmerrechte kodifiziert. Anders Menem: er steuerte Argentinien in Richtung hemmungslosen Neoliberalismus und Korruption.
Wenn wir heute auf die verstrichenen 20 Jahre zurückblicken, dann fällt einem natürlich sehr schnell dieser wirtschaftliche Umbruch ein. Um noch einmal vom Begriff der Arendt'schen Revolution zu sprechen: Es ging den Akteuren damals nicht primär um die Durchsetzung sozialer Forderungen, es ging vor allem um die Freiheit. Es ging um freie Wahlen, um Meinungsfreiheit und um unabhängige Richter, um die Garantie, nicht ohne Prozess ins Gefängnis zu kommen. Und der Rechtsstaat garantiert auch privates Eigentum.


Auch überall im Osten konnte nicht schnell genug privatisiert und liberalisiert werden. Dort war es ja durchaus verständlich, weil die Planwirtschaft nicht funktioniert hat. Sie war im Übrigen nicht einmal nach den technisch bestehenden Möglichkeiten geplant, sondern chaotisch und von Funktionärswillkür beherrscht. „Voluntarismus" hat man das damals genannt.


In Ungarn konnte es meinen Freunden von der demokratischen Opposition, die sich in der linksliberalen Partei SZDSZ organisiert hatten, mit dem Privatisieren und Deregulieren gar nicht schnell genug gehen. Voriges Jahr hat dann hier in Wien im Renner-Institut der ungarische Philosoph Gaspar Miklos Tamas, der nach 1989 selbst in Budapest im Parlament saß, ernüchternd Bilanz gezogen. Fast die Hälfte der Arbeitsplätze sei in dieser „schönen neuen Welt nach dem Kommunismus" verloren gegangen, sagte Tamas. Trotzdem hätte das ungarische Parlament jahrelang die Zunahme der Arbeitslosigkeit ignoriert und nie über Lösungen des Problems debattiert.


Wir wissen, was mit den berühmten „Modernisierungsverlierern" geschehen ist: Viele von ihnen sind rechtspopulistischen, in Ungarn auch ausgesprochen rechtsradikalen Rattenfängern nachgelaufen. Meine Kollegen Gregor Mayer und Bernhard Odehnal haben dazu heuer ein aufrüttelndes Buch mit dem Titel „Aufmarsch - Die rechte Gefahr aus Osteuropa" herausgebracht. Pessimisten könnten dieses Buch in gewisser Weise als traurige Fortsetzung zu meinem Buch über den „Sturz der Diktaturen" und die 1989 herrschende Begeisterung betrachten.

Politikmüdigkeit


Wie wir wissen, ist diese Begeisterung ja nicht nur in den neuen Demokratien rasch verflogen, auch darüber hinaus machte sich in vielen Staaten die „Politikmüdigkeit" breit.


Am besten und eindringlichsten hat dies meiner Meinung nach der britische Politologe Colin Crouch zusammengefasst, der seine Thesen zur „Post-Demokratie" im Rahmen von Renner-Institut und Kreisky-Forum voriges Jahr auch hier in Wien vorgetragen hat.


Er betrachtet die Phänomene Politikverdrossenheit und Wahlverweigerung als Ergebnisse einer Entwicklung zu „vordemokratischen" Zuständen, bei denen Wirtschaftseliten über die Geschicke von Staaten bestimmen. Er schrieb, dass Wahlen zwar nach wie vor abgehalten würden, dass vor dem Wahltag nun aber von den Parteien beauftragte und „konkurrierende Teams von PR-Experten die öffentliche Debatte im Wahlkampf zu einem Spektakel verkommen ließen." Crouch bezog sich in erster Linie auf Berlusconis Italien, er ließ aber auch andere Parteien wie New Labour und die Sozialdemokratie nicht ungeschoren.


Hier in Wien hat Crouch hinzugefügt, dass auch die jüngsten Entwicklungen der Finanzkrise „keine größere soziale Mobilisierung" ausgelöst hätte.


(Als „panische Lethargie" oder „lethargische Panik" hat die Neue Zürcher Zeitung den vorherrschenden Gemütszustand kürzlich beschrieben.)


Im Frage-und-Antwort-Teil seines Wiener Vortrags habe ich Crouch dann gefragt, ob nicht die Wahl Barack Obamas zum Präsidenten der USA eine Gegentendenz zeige. Obamas Wahl war ja eine massive Mobilisierung junger und armer Menschen für ihn vorausgegangen, von Wählern, die vorher nicht politisch organisiert waren.
Professor Crouch stimmte mir zu. Er sagte, beim Obama-Phänomen scheine es gelungen zu sein, die Welt junger, motivierter Aktivisten mit der ganz anderen Welt des offiziellen Partei-Managements zusammen zu bringen. Es sei aber noch zu früh, zu beurteilen, ob das auch längere Zeit funktioniert.


Ich darf ihnen zum Abschluss dazu noch ein paar positive Eindrücke mitgeben. Vor ein paar Wochen war ich in den USA an der University of Michigan, wo meine jüngere Tochter Valentina ihren Studienabschluss gefeiert hat. Diese Uni gilt als progressiv, ein Hauptanliegen ist „diversity", das heißt, dass Angehörige von Minderheiten und aus einkommensschwächeren Schichten gefördert werden. Ein wichtiger Forschungszweig ist dort das öffentliche Gesundheitswesen, Public Health.


Das war wohl auch der Grund, warum als Festredner Präsident Obama nach Michigan gekommen war. Es ist eine Riesen-Uni, heuer gab es 8.500 Graduates, die in ihren Talaren auf dem Rasen des Football-Stadions standen. Ich saß unter Familienangehörigen und Freunden der Absolventinnen und Absolventen hoch oben im Stadion. 80.000 Menschen waren ins Stadion gekommen, und das, obwohl es bis zum Beginn der Veranstaltung stundenlang strömend regnete. 

Standing ovations für Obama


Es war bereits nach dem Beginn des Öl-Austritts im Golf von Mexiko, als Obamas Popularität angeblich schon im Keller war. Überhaupt bekommen wir ja ständig zu hören, dass die US-Bürger den Glauben an die Veränderungskraft Obamas verloren hätten. Doch dort, im Universitätsstadion von Ann Arbor, gab es minutenlang standig ovations für Obama, und auch während seiner Rede unterbrach ihn mehrmals begeisterter Applaus.


Zunächst einmal beruhigte Obama die Menschen, die sich um ihn Sorgen machten, weil er von politischen Gegnern und von Hasspredigern in den Medien wild attackiert, einmal als Stalinist, dann wieder als Nazi bezeichnet werde. Er habe schon bei seinem Eintritt in die Politik gewusst, dass das nichts für „dünnheutige und Leute mit schwachem Herz" sei, sagte er. Dann erinnerte er noch daran, dass in den USA auch schon in früheren Zeiten erfolgreiche Präsidenten wüst beschimpft worden sind. 


Obama versprach jedenfalls, bei der Verwirklichung seiner Ziele nicht locker zu lassen und kam dann zu einem zweiten Thema: Participation.


Der Präsident rief die Studenten und die Zuhörer insgesamt dazu auf, sich, allen Schlammschlachten zum trotz, politisch einzumischen, und zwar auf allen gesellschaftlichen Ebenen von der lokalen angefangen, in Wahlen, mit Anrufen und Mails, bei Versammlungen etc.

"Yes, we Gauck"


Wenn ich diese Worte Obamas nachklingen lasse, dann habe ich das Gefühl, dass die Phase, in der Bürgermut und Engagement als hoffnungslos romantisch und völlig sinnlos, ja sogar als kontraproduktiv betrachtet werden, vielleicht zu Ende geht. Ich sehe die global wachsende Solidarität mit Freiheitsinitiativen in China und im Iran. Auch im nationalstaatlichen Bereich gibt es positive Anzeichen, wie wir das diese Woche in Deutschland gesehen haben. Dort haben sich viele Bürger, obwohl es gar keine Volkswahl gab, für einen der Präsidentschaftskandidaten engagiert. Manche sind sogar, mit direktem Bezug zu Obama, mit Ansteckknöpfen herumgegangen, auf denen stand: „Yes, we Gauck!"


Ja, und schließlich haben österreichische Künstler und Intellektuelle gestern Abend hier in Wien gezeigt, dass sie wieder bereit sind, sich einzumischen und dass sie mit ihren Vorstellungen über gerechte und menschliche Zustände in diesem Land auch tausende mobilisieren können.


Sehr geehrte Damen und Herren, die Jury des Bruno-Kreisky-Preises hat mein Buch ausgezeichnet, in dem ich zeigen will, dass sich Engagement auszahlt und manchmal sogar erfolgreich ist. Ich betrachte den Preis als Auftrag, in diesem Sinn weiter zu machen.
Vielen Dank."