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Es ist nicht nur der Bremer Mesut Özil, der den Stil prägt. Aber ohne ihn - und mit Michael Ballack - wäre der wohl nicht ganz so augenfällig.

Foto: EPA/Marcus Brandt

Wien - Fußball-Weltmeisterschaften - die im Grunde nichts anderes sind als eine Zusammenschau all dessen, was es gibt - ziehen ihren Reiz nicht zuletzt daraus, dass sie die festgezurrten und weit über den Fußball hinausreichenden Vorurteile alle vier Jahre auf eine harte Probe stellen.

Zum Beispiel das über die Piefke. Es mag schon sein, dass deren Heim-WM vor vier Jahren - das erst im Spiel um Platz drei erfolgreich zu Ende gegangene „Sommermärchen" - bereits ein wenig gerüttelt hat am Klischee. Nun aber, 2010, wagen selbst die schärfsten Piefkefresser - die Österreicher also - nicht mehr, dem deutschen WM-Team piefkische Unarten nachzusagen.

Mehr noch: In den der Haltungstradition verpflichteten Public-Viewing-Zonen - bei den Wirten landauf, landab - hat man zuletzt immer häufiger den bass erstaunten Ausruf gehört: „Die spielen wie Piefke." Gemeint waren damit aber nicht die Deutschen - für die nun immer lieber das Wort „Schlander" gebraucht wird -, sondern bislang völlig unverdächtige Mannschaften wie die Brasilianer und die Holländer. Und wenn man so was hört - ich bitte dich:_Brasilien! Holland! -, dann sollte man doch kurz innehalten. Und sich zum Beispiel fragen: Darf das alles wahr sein?

Wahrheit auf dem Platz

Im Fußball, das ist sein immenser Vorteil gegenüber der Schnödheit der Welt, liegt die Wahrheit auf dem Platz. Und wer Augen hat zu schauen, um tatsächlich was zu sehen, wird schwerlich nur bestreiten können, dass die deutsche Mannschaft 2010 etwas ausstrahlt, das alles Mögliche sein mag, nur eines nicht: Piefkisches.

Der piefkische Fußball war stets getragen von einer behäbigen Unerbittlichkeit. Es war das Beckenbauer'sche „Schaun mer mal", das zuweilen als „Geduld" umschrieben wurde oder als „Warten auf die eine Chance", die dem Spiel dann ohne jeden Witz die Wendung gab. „Effizienz" nennt man so was auch. Manches Mal auch „Glück", welches den Piefke tatsächlich in überreichem Maß anzuhaften schien.

Wer heute, in Kenntnis der Vorrunden- und Achtelfinalspiele, solche Teamcharakteristika in den Mund nimmt, beschreibt freilich nicht Joachim Löws Deutsche, sondern eben Carlos Dungas Brasilianer oder Bert van Marwijks Niederländer.

Man sollte das nicht gering achten. Beide Teams haben ihre angestammten und mühsam erworbenen Qualitäten ja nicht verloren. Sie haben zu diesen bloß das Piefkische hinzugefügt. Die Brasilianer übrigens - unter heftigster Kritik in der Heimat - seit vielen, vielen Jahren schon.
Nichts anderes aber taten die Deutschen. Sie fügten ihrer fraglosen Qualität einfach neue Elemente hinzu. Will man die Sache übertreiben - oder zuspitzen -, ließe sich sagen: Teamchef Joachim Löw hat die Lehren der EM 2008 beherzigt und den spanischen Kurzpasswirbel auf Deutsch interpretiert, wodurch den Deutschen der piefkische Verwaltungskick abhanden gekommen ist, den umgekehrt die Brasilianer und Holländer integriert haben. Und das nicht zu deren Nachteil.

Keine Meister des Scheiberlspiels

Natürlich sind die Deutschen deshalb keineswegs die Meister des nunmehr zu Recht „tiqui taca" genannten Scheiberlspiels. Aber Löw gelang eine fulminante Neuinterpretation des uralten „Schalker Kreisels" aus den Dreißigerjahren. Denn ja: Auch die Deutschen haben eine diesbezüglich sehr lange Tradition.

Die nur durch zwei prägende Nachkriegsphasen etwas verschüttet wurde (aber keineswegs zur Gänze wie hierzulande). Sepp Herbergers 54er-Weltmeister, die legendären „elf Freunde", waren die ums schöne Spiel verständlicherweise kaum bekümmerten Wiederaufbau-BRDler. Sie taten im Grund nichts anderes als alle anderen Landleute: Sie haben die Ärmel aufgekrempelt und in die Hände gespuckt.

Friedrich Torberg, der feinsinnige Tschecho-Österreicher, sah darin einen Anschlag aufs Wesen des Spiels. Nach dem Finalsieg über Ungarn rief er - so überlieferte er es selbstironisch selber - empört aus: „Das ist das Ende der Poesie im Fußball." Zum Glück stand Europas damals angesehendster Sportjournalist, Willy Meisl, der Bruder des österreichischen Wunderteam-Chefs, daneben und korrigierte umgehend: „Es ist höchstens das Ende des Hexameters."

Löw - und das wird sein Verdienst auch dann bleiben, wenn Argentinien über die Deutschen ins Halbfinale kommen sollte - hat den Deutschen ein neues, in seiner Stimmigkeit überraschend neues Versmaß beigebracht. Selbst die leidenschaftlichsten Piefkefresser, also die Österreicher, werden zugeben müssen, dass beim aktuellen Spiel der deutschen Mannschaft etwas sehr rhythmisch klingt. Und das ist nicht allein der Erfolg.

Löws „elf Freunde" - ja, so darf man das wohl nennen - haben jedenfalls dem piefkischen Vorgesetztenfußball der Siebzigerjahre eindrucksvoll den Garaus gemacht. Diese Mannschaft hat, wie etwa auch die an Brasilien gescheiterten Chilenen, etwas Inspirierendes, über sich und das Turnier Hinausweisendes.

Elf Freunde

Das „Sommermärchen" vor vier Jahren haben viele als eine Art Neuerfindung von Gesamtdeutschland interpretiert. Nun erst seien Ossis und Wessis wirklich eine Nation geworden. Sollte dem so gewesen sein, dann hat Joachim Löw - damals ja schon der ballesterische Mastermind - nun den entsprechenden Ausdruck dafür gefunden. Kein Engländer wird je mehr über „Panzer" reden, wenn ein Match gegen Schland auf dem Kalender steht. Diese Sache ist vorbei.

So wie es ausschaut, hat Joachim Löw dabei auch ein immenses Massel gehabt. Ihm ist der Chef abhanden gekommen. Der Ghana-Deutsche Kevin Prince Boateng war im englischen FA-Cup-Finale dem Michael Ballack folgenreich ins Sprunggelenk gestiegen. Ballack vermutete Absicht dahinter. Und wer Deutschland in Südafrika hat spielen sehen, wird ihm nur ungern widersprechen.

Denn mit Ballack - so viel „Was wäre, wenn" muss erlaubt sein - wären die Deutschen weiterhin bloß Piefke geblieben. Ohne ihn konnte Löw einen wahrhaft modernen Stil implementieren. Das deutsche Team ist eines mit augenfällig flacher Hierarchie, das klarerweise das Gegenteil des ziemlich ausrechenbaren Vorgesetztenfußballs ist, der von Beckenbauer herrührt und mit Ballack wohl auch unausweichlich gewesen wäre.

Mit Ballack hätte es den Mesut Özil nie gegeben, der zurzeit etwas tut, was Piefke nie gekonnt haben: Er bezwingt die Welt nicht, er bezaubert sie. Aus österreichischer Sicht ergibt sich daraus ein ungeheures Paradoxon: Die Schlander haben die Weltmeisterschaft schon gewonnen. Denn selbst wenn sie im Viertelfinale an Argentinien scheitern sollten, wären sie dann in Schönheit gestorben. Und wer in Schönheit stirbt, darf mit Fug und Recht auf ein Leben nach dem Tod rechnen.

Bei all dem nun ausgesprochenen Zauberhaften sollte man aber auch die alten piefkischen Tugenden nicht vergessen, die Joachim Löw so geschickt hinter seinem mainzelmännchenhaften Schwarzwälder Akzent zu verstecken weiß. Löw ist einer, der weiß, was er will. Er hat - und darin unterscheidet er sich von der heimischen Szene, in der er ja auch tätig gewesen ist - eine Idee.

So was zum Beispiel würde man gerne einmal von einem österreichischen Trainer hören: „Ich weiß, wie ich mit meiner Philosophie zum Ziel kommen kann, wie man mit ansehnlichem Fußball erfolgreich spielen kann. Ich kenne jetzt Lösungen. Ich weiß, wie eine Mannschaft spielen sollte, was man dafür tun muss."

Er selber käme aus der „Angreifer-Ecke". Seinen Spielern wolle er eine „Wenn-dann-Strategie" einimpfen, also einen Plan B. Oder notfalls einen Plan C. Dazu braucht er, no na, intelligente und willige Spieler. Wie Miroslav Klose und Lukas Podolski etwa, die ja eine recht verkorkste Saison zu bilanzieren hatten.

Mit der Frage, ob er nun ein guter Motivator sei, hat Löw sich nicht auseinandergesetzt. Sein Metier ist die Taktiktafel. Und diesbezüglich hat er offenbar bei den jungen Spielern offene Ohren gefunden. Vor der WM hatte er der Hamburger Zeit versprochen: „Wir werden Fußball spielen, statt Fußball zu verwalten." Und konkretisierte auf Nachfrage: „Wir müssen in der Lage sein, dem Gegner jederzeit unser Spiel aufzuzwingen. Das betrifft nicht nur die Offensive, sondern auch die Defensive. Wer dem Gegner Zeit und Raum nimmt, sein Spiel zu entwickeln, handelt aktiv und keineswegs zerstörerisch." Wie das gemeint sein könnte, hat man nun in vier aktiven und keineswegs zerstörerischen Partien gesehen.

Löw hat Deutschland einen Stil geschenkt. So wie die Holländer in den Siebzigerjahren den „totaal voetbal" in die Welt setzten, die Brasilianer seit jeher das „jogo bonito" pflegten, die Spanier das „tiqui taca", die Argentinier den „linken Fußball" und von mir aus die Italiener das „catenaccio".

Noch wird man warten müssen, für das neue deutsche Spiel ein Wort zu finden. Nur eins ist schon klar: Der alte, schillernde Begriff Piefke wird darin nicht mehr vorkommen dürfen. (Wolfgang Weisgram, DER STANDARD Printausgabe 01.07.2010)