Malen und malen wider die Verbildung durch die Schule: Arno Stern.

Foto: arnostern.com

Ein typisches Pariser Wohnhaus in der Rue Falguière. Im Erdgeschoß sind aus dem hinteren Raum Kinderstimmen zu vernehmen. Irgendetwas hält einen davor zurück, einfach hineinzuplatzen. Vielleicht Respekt vor dem Ort, dem "Malort" , wie Arno Stern später sagt. Jetzt beugt sich der 86-jährige Mann in weißer Schürze zu seinen Schützlingen hinunter, aber ohne jede Herablassung, um zu ihnen zu sprechen. Erstaunlich: Dieser Mensch mit den so markigen wie feinen Gesichtszügen, früh umhergetriebener Autodidakt, Vater dreier Kinder, sechzig Jahre Feldstudien auf der ganzen Welt, dieser weise weißhaarige Mann empfindet und benimmt sich gegenüber seinen meist jungen Malschülern nicht wie ein Lehrer oder Meister, sondern wie ein "Diener" , wie er sagt.

Die Kinder, dazu auch ein paar Erwachsene, malen auf mehr oder weniger großen Blattbögen an der Wand. In der Raummitte ein Maltisch, voller Kleckse, aber fein säuberlich geordnet. Wenn die Zeit um ist, legen die Schüler ihre Pinsel zurück und verlassen den Raum, ohne auch nur einen Blick auf das Gemalte zu werfen. Stern verabschiedet sich ohne jeden Kommentar, ohne jede Frage zu den einzelnen Arbeiten. "Ich habe dazu nichts zu sagen" , meint er nachher im Gespräch. "Auch den Leuten käme es nie in den Sinn, über ihre Werke zu sprechen."

Den Teilnehmern ist nur ein äußerer Rahmen gesetzt: Sie kommen einmal in der Woche, Alter und Herkunft sind völlig egal, und malen 90 Minuten lang. Den Ausgleich zu dieser Alleintätigkeit bildet der Palettentisch in der Mitte, an dem sich alle bedienen. Stern: "Ich gebe keine Anleitungen, ich beurteile nicht, ich schreibe nichts vor, ich greife nicht ein."

Und die Malenden schaffen keine Werke, keine Kunst. Das Resultat zähle nicht, ein Ziel gebe es nicht, meint Stern. Auch keine Erwartung; Fortschritt ist nicht gefragt. Das Malspiel sei deshalb auch keine Kunsttherapie, meint der Abkömmling einer jüdischen Familie aus Hessen. Er nennt es "Formulation" : eine Art Ursprache voller Urzeichen.

Auf dieses Konzept, das keines ist, kam Stern, ohne dass er danach gesucht hätte. 1933 verließ er Deutschland mit seinen Eltern. Seine Jugendzeit verbrachte er auf der Flucht in Frankreich und der Schweiz. Nach dem Krieg half der junge Arno in einem Waisenhaus. Er hatte die Zeit zwischen den Schulstunden zu überbrücken, aber nur Bleistifte und Abfallpapier zur Hand. Daraus wurde ein privates Malatelier.

Eine Maltheorie kannte Stern nicht und wollte er auch nicht vermitteln. Er ließ die Kinder einfach malen, völlig frei, ohne Absicht und Urteil. Doch die Bilder sahen ganz anders aus als in den Malschulen. "Nach einiger Zeit malten die Leute meist nur noch Striche und ganz einfache Formen. Anfangs dachte ich, es handle sich um eine neue Gattung von Kunst, Kinderkunst eben. Dann merkte ich, dass die Kinder gar nichts vermitteln wollen, wenn man sie tun und malen lässt."

Dafür fiel Stern auf, dass die Zeichnungen oft eine ähnliche Struktur hatten. "Ich merkte, dass es sich nicht um einen eigentlichen ‚Ausdruck‘ handelt, sondern dass mit der Zeit etwas von innen herauskommt, etwas, das bei allen Menschen gleich ist, wie eine Art Code." Es gebe rund ein Dutzend Urtypen von Mal- oder Zeichnungsmustern, meint der heutige Maldiener: Parallelstriche, Grätenmuster, Strahlen etwa. "Es ist wie die genetische Programmierung in der Botanik, wenn die Samenkörner die stets gleiche Pflanze ergeben" , meint der Mann, der sich in einem seiner letzten Bücher als "Gärtner zwischen seinen Rosen" bezeichnet.

In den 1950er-Jahren, als Stern noch Erklärungen suchte, machte er sich mit Schlafmatte und Kocher bewehrt auf in die Welt. In Peru, Niger, Mexiko, Neuguinea und Afghanistan traf er auf Stämme und Nomaden, deren Kinder keine Schuldbildung erhalten und noch nie gezeichnet hatten – aber die gleichen Malmuster anwendeten. "Natürlich zeichnen Kinder in der Wüste keine Segelschiffe, aber sie malten stets dasselbe Dreieck, etwa in Form eines Reiters auf dem Pferd." Das Viereck mit einer Spitze, das in unseren Breitengraden ein Haus ergab, stellte in Afrika einen menschlichen Körper dar. Stern zeigt auf seinen Fotos zahllose Beispiele frappanter Übereinstimmungen. Einige Parallelen wirken etwas gesucht, doch eine Gemeinsamkeit entzieht sich jedem anthropologischen Einwand: "Wenn ich heute, oft Jahrzehnte später, erwachsene Teilnehmer des Malspiels treffe, sagen sie mir alle dasselbe – diese Stunden seien ‚die glücklichsten ihres Lebens‘ gewesen." Er bewahrt die erstellten Bilder zwar zu Forschungszwecken auf; die Malenden haben damit nach dem Kurs nichts mehr zu tun.

Und wie würde der Begründer den Sinn der über Europa verstreuten Malorte – deren Leiter er zum Teil ausbildet, ohne sie nachher zu kontrollieren – beschreiben? Als "Bereicherung, die das Menschsein erfüllt" , kommt die Antwort ohne Zögern. "Im Gegensatz zur Schule, die nur zu Abhängigkeit und Verbildung führt, stärkt das Malspiel die Persönlichkeit. Wer es erlebt hat, findet immer eigene Lösungen." (Stefan Brändle aus Paris, DER STANDARD/Printausgabe, 26./27.06.2010)