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Eine Multiple Sklerose-Erkrankung bedeutet nicht zwangsläufig ein zukünftiges Leben im Rollstuhl.

Foto: APA/Franka Bruns

Berlin - „In der Behandlung der Multiplen Sklerose hat man große Fortschritte gemacht. Aktuellste Beispiele sind die Wirkstoffe Cladribin und Fingolimod, die oral verabreicht werden", sagte Klaus V. Toyka (Direktor der Neurologischen Klinik, Universitätsklinikum Würzburg) auf dem Europäischen Neurologen-Kongress in Berlin. Die Testergebnisse dreier Studien zeigen, dass die beiden Wirksubstanzen die Häufigkeit von MS-Schüben deutlich reduzieren. Anders als bisherige Substanzen, die per Infusion verabreicht werden, werden Cladribin und Fingolimod als Tabletten eingenommen, einmal als kurze Einnahmeperiode mit Langzeiteffekt, zum anderen als tägliche Einnahme. „Damit haben wir eine wichtige Erweiterung der Behandlung der schubförmigen MS erreicht", ist Toyka überzeugt. Die Tabletteneinnahme wird von vielen Patienten gewünscht, für die das regelmäßige Spritzen eine Belastung bedeutet. „Wir hoffen, dass die geplante Testung dieser Substanzen für fortgeschrittene MS-Stadien wie die sekundär-progrediente MS bald auch positive Ergebnisse erbringt."

Neuartige Wirkmechanismen

Das bereits als Krebsmittel zugelassene Cladribin ist ein kleines Molekül, das möglicherweise das Verhalten und die Zellteilung bestimmter weißer Blutkörperchen beeinflusst, die wahrscheinlich am pathologischen Prozess der MS beteiligt sind. Es wurde vor vielen Jahren schon einmal für MS in einigen kleineren Studien getestet, aber nicht mit der heute geforderten Qualität und Überzeugungskraft. Fingolimod verhindert, dass potenziell schädliche Immunzellen aus den Lymphknoten in die Blutbahn gelangen. Damit können sie nicht zur Entstehung von Entzündungen im ZNS beitragen, die für einen Großteil der Krankheitserscheinungen bei MS verantwortlich gemacht werden. Zudem zeigten experimentelle Untersuchungen, dass Fingolimod direkt mit Zellen des ZNS reagiert, wo es eine schützende Wirkung entfalten und die Wiederherstellung von Gewebe fördern könnte. Die klinische Bedeutung dieses ‚neuroprotektiven Wirkteils‘ von Fingolimod ist allerdings noch nicht erforscht.

Obwohl Cladribin und Fingolimod sich in ihren Wirkmechanismen unterscheiden, erbringen sie ähnliche therapeutische Ergebnisse. Die Testphase fand in den vergangenen zwei Jahren statt und lieferte sehr zufriedenstellende Ergebnisse in Hinblick auf die Reduzierung von MS-Schüben. 

Reduktion der Schubhäufigkeit um bis zu 60 Prozent

Die Ergebnisse der (Phase-III) Cladribin Studie („CLARITY") mit über tausend schubförmigen MS-Patienten sind sehr gut: Nach 96 Wochen war die jährliche Schubrate gegenüber Placebo um über 50 Prozent reduziert und fast 80 Prozent der Cladribin-Behandelten blieben bis zum Studienende schubfrei. Vor allem war die Verschlechterung der MS-bedingten Behinderungen bei den Behandelten um ein Drittel geringer ausgeprägt als in der Placebo-Gruppe. Die positiven Therapieeffekte zeigten sich auch in den MRT Untersuchungen.

In der zweijährigen klinischen Fingolimod-Studie („FREEDOMS") mit über tausend schubförmigen MS-Patienten zeigte sich, dass Fingolimod bei schubförmiger MS die Schubhäufigkeit ebenfalls um über 50 Prozent im Vergleich zu Placebo vermindert. Auch eine Verschlechterung der MS-bedingten Behinderung konnte um rund 30 Prozent verringert werden. Mittels MRT konnte gezeigt werden, dass die Zahl der entzündlichen Herde abnahm und sich der Abbau von Hirngewebe verzögerte. Eine weitere einjährige Studie verglich Fingolimod mit einem Interferonpräparat und zeigte deutliche Überlegenheit von Fingolimod.

Wenige unerwünschte Wirkungen 

Allgemein wurden die beiden neuen Medikamente gut vertragen. Allerdings diagnostizierten die Ärzte ein vermehrtes Auftreten von Herpes zoster Infektionen (Gürtelrose) bei Cladribin-Patienten und auch bei Fingolimod und eine vorübergehende Abnahme der Herzfrequenz bei der Ersteinnahme von Fingolimod. In beiden Studien traten auch einige wenige, zum Teil eher seltene Tumorerkrankungen auf „Auch wenn die Ergebnisse der Studie vielversprechend sind, können wir seltene, schwerwiegende Nebenwirkungen erst durch die breitere Anwendung nach der Zulassung abschätzen. Deshalb sind Folgestudien nach Markteinführung äußerst wichtig", so Toyka. Derzeit laufen die Folge-Untersuchungen zum Nutzen-Risiko-Verhältnis der beiden Arzneimittel. Fingolimod ist von der US-amerikanischen Zulassungsbehörde am 11. Juni 2010 zur Zulassung empfohlen worden, bei der europäischen EMEA mag es noch etwas dauern. Auch Cladribin befindet sich im Zulassungsprozeß. Bis zur Zulassung bei uns werden wohl noch einige Monate vergehen.

In der symptomatischen MS-Therapie konnten Ärzte und Forscher manchen Fortschritt erzielen. In der Behandlung der von MS ausgelösten Symptome wie zum Beispiel eingeschränkte Kraft und Mobilität können Patienten jetzt auf Erleichterung hoffen. Bisher konnten diese Funktions-Einschränkungen nur unbefriedigend behandelt werden. Das aus einer im Experiment schon vor Jahren von  Toykas Team in Würzburg und auch in Amsterdam getesteten Substanzgruppe stammende Fampridin hat in einer kleinen Studie bei ungefähr 40 Prozent aller Teilnehmer etwas bewirkt: Es half, die Gehfähigkeit zu verbessern. Fampridin wirkt über eine Blockade der Kaliumkanäle und verbessert so die Signalleitung in demyelinisierten Nervenbahnen. Mittlerweile ist der Wirkstoff in den USA unter dem Namen „Ampyra" zugelassen. Europa und Kanada werden in den kommenden Monaten folgen.

Behandlungsempfehlung bei der Erkrankung von PML durch Natalizumab

Im Namen des Ärztlichen Beirates der Deutschen Multiple Sklerose Gesellschaft (DMSG), zusammen mit neurologischen Fachverbänden und in Übereinstimmung mit den schweizerischen und österreichischen MS-Gesellschaften, gab Toyka mit dem Vorstand erstmals eine Empfehlung zur Verwendung des MS-Medikamentes Natalizumab (Tysabri) ab. Das Medikament war in den USA 2005 vom Markt genommen und im Jahr darauf wieder eingeführt worden. Ursache waren Patienten, die an „Progressiver multifokaler Leukoenzephalopathie" (PML) erkrankten, einer schweren und früher meist tödlichen Virusinfektion des zentralen Nervensystems mit schwerwiegenden neurologischen Ausfallserscheinungen. Grund für die Empfehlung waren Tysabri-behandelte MS-Patienten, die an PML erkrankten. „Jeder Arzt sollte an PML zu denken, wenn bei einem MS-Patienten, der mit Natalizumab behandelt wird, neue neurologische oder psychiatrische Symptome auftreten. Unsere Fachspezialisten haben klare Empfehlungen zur Sicherheit der Patienten erarbeitet. Vor allem wird jetzt jeder Patient bei einer Therapiedauer von 24 Monaten noch einmal genau aufgeklärt und im Falle der Weiterbehandlung engmaschig überwacht", berichtet Toyka. 

Die Behandlungsempfehlung der DMSG sieht als ersten Schritt eine Kernspintomografie zur Diagnose vor. Sollte diese nicht eindeutig sein, muss eine Liquoranalytik des krankheitsauslösenden JC-Virus gemacht werden. Bestätigt sich der Verdacht, sieht die DMSG und die von Gold und weiteren Kollegen initiierte „Arbeitsgruppe Immuntherapie" eine Plasmapherese-Behandlung vor, „damit der Wirkstoff möglichst rasch aus dem Körper eliminiert wird". „Trotz dieser schweren und gewichtigen Risiken sahen wir noch keinen Grund, die Tysabri-Therapie generell und starr nach zwei Jahren zu begrenzen", so Toyka. 

Venöse Abflussstörung ist kein Auslöser für MS

Einer derzeit kursierenden, stark umstrittenen Theorie über eine mögliche Ursache von MS tritt Toyka mit den Mitgliedern des Ärztlichen Beirates und den Verantwortlichen des neuen Kompetenznetzes MS des Bundesforschungsministeriums entgegen: „Die Theorie der ‚chronisch cerebrospinalen venösen Insuffizienz` (CCSVI), die als mögliche Ursache für MS immer wieder in Fachkreisen diskutiert wird, ist eine Theorie, die zur Zeit wissenschaftlich nicht zu belegen ist." Diese Theorie geht davon aus, dass eine venöse Abflussstörung zur Erhöhung des venösen Druckes im Gehirn führt, der wiederum in Blutgefäßen zu Eisenablagerungen mit Entzündungsreaktion führen könnte. Toyka kritisiert, dass die zum Beweis erhobenen Ultraschallbefunde keine eindeutigen Ergebnisse ergaben.  Toyka: „Leider hat die bisher einzige und methodisch stark kritisierte Studie von Paolo Zamboni schon zu Erweiterungsoperationen mit Stents an den ‚betroffenen‘ Hirnvenen geführt, die in den USA sogar Todesopfer forderten. Der Ärztliche Beirat bezeichnet die Studien als ethisch bedenklich." 

MS-Ausbruch meist zwischen 20. und 40. Lebensjahr

Während viele neurologische Krankheiten wie neuropathische Schmerzen, Schlaganfall, Parkinson oder Alzheimer überwiegend Krankheiten fortgeschrittener Lebensphasen sind, ist die MS eine Krankheit des Jugendlichen und jungen Erwachsenen (zwischen dem 20. und dem 40. Lebensjahr), mitunter tritt sie sogar im Kindes- und Jugendalter auf. Anzeichen können Gefühlsstörungen, Seh- oder Sprachstörungen bzw. Zittrigkeit sein, aber auch Gangunsicherheit und Gehstörungen bis hin zu Lähmungen einer oder mehrerer Extremitäten, Störungen der Koordination, Blasen- und Darmentleerungsstörungen, Beeinträchtigung der Muskulatur und der Körperwahrnehmung. Auch die Sexualfunktionen können bei MS-Patienten gestört sein. MS hat mit zunehmender Krankheitsdauer einen negativen Einfluss auf die Leistungsfähigkeit. Eine besondere Form der raschen Ermüdbarkeit ist die „MS-Fatigue". 

Hier müssen sich Neurologen in Akutkliniken und Praxen mit den Rehabilitations-Neurologen verbünden, um gemeinsam eine multimodale symptomatische Therapie anzubieten, die zumindest Linderung bringen kann. Zusammenfassend sieht Toyka die Zukunft der MS-Therapie als eine Erfolgsgeschichte mit aktuell neuen Ergebnissen an, warnt aber zugleich davor, die schon bewährten und im Risikoprofil günstigen Immunmodulatoren zu mißachten, auch wenn sie gespritzt werden müssen. (red)