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Prangt in Zeiten der Lebensangst schon seit langem vergeblich von der Fassade der Wiener Volksoper: Friedrich Schillers Ausspruch "Die Kunst ist eine Tochter der Freiheit."

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"Osterklang" - ein getanzter Messias, ein Requiem ohne Leiche, dazu Ausstellungen ohne Zahl. Allerorten reger Kunstbetrieb. Doch: Was hat ein Kunstbetrieb mit der Kunst zu tun?


Sagte doch erst kürzlich ein Absolvent der Angewandten, alles schön und gut mit dem Kunstbetrieb in Österreich, er wolle auch gegen diesen nichts sagen. Eines allerdings schon: Für das, was er macht, sieht er nirgends den geeigneten Ort; Museen - kotz, nicht weniger schrecklich auch die Vorstellung, dass die Vernissagengäste in einer Galerie mit dem Rücken zu seinen Arbeiten im saloppen Smalltalk die gereichten Billigweine schlürfen.

Also zieht er die Konsequenz und postiert seine Stücke zum höchlichen Erstaunen mancher Sonntagsjäger im Dickicht der Wälder oder in U-Bahn-Stationen. Manchmal mogelt er auch eines seiner Artefakte in hochgepriesene Ausstellungen und freut sich diebisch, wenn dies keinem der soignierten Kunstflaneure auffällt.

Kunstlemminge

Daneben die dichten Formationen von Publikumslemmingen, die, den dubiosen Edikten selbst ernannter Fachleute gehorchend, stundenlang lammfromm Dinge anhören oder ansehen, die sie, befragt man sie nur eindringlich genug, in den meisten Fällen gar nicht hören und auch nicht sehen wollen.

Wo also ist die Kunst, um die es angeblich in allen Fällen geht, nun wirklich zu finden? Im Büro des Herrn Kunststaatssekretärs, im Verlauf eines handfesten Requiems ohne Leiche, in diversen, immer mehr dem Ruhm von deren Kuratoren dienenden Ausstellungslabyrinthen, im neu gesprossten schwarzen Zwilling des Grazer Uhrturms - oder gar in den vom eingangs erwähnten jungen Künstler bestückten Waldstellen?

Zwangsläufig münden alle diese Fragen in jener fundamentalen, nämlich in jener, was denn Kunst nun eigentlich sei. Auf diese gibt es freilich Hunderte von Antworten, von denen, wie man weiß, keine einzige tatsächlich befriedigt. Dieser Umstand enthebt jedoch nicht der Verpflichtung, diese immer wieder zu stellen - und sich einer Antwort entsprechend der jeweiligen gesellschaftlichen Gesamtsituation anzunähern.

Auf die Gegenwart bezogen heißt dies, jenes psychologische Agens aufzuspüren, von dem die meisten emotionalen und konkreten Aktionen und Reaktionen des heutigen Menschen motiviert und geprägt sind. Die Suche ist nicht schwer, und ihr Ergebnis liegt auf der Hand. Die zentrale Emotion ist jene der Angst.

Wie nie zuvor prägt die Angst unseren Alltag. Die Angst vor Krankheit - jene vor dem eben aufschäumenden Sars verstört schon Handel und Verkehr und jene vor kriegerischer Aggression die Politik und das Sozialwesen.

Und, sogar im beruflichen Alltag wird die Existenzangst zum immer häufiger und mit immer größerem Erfolg eingesetzten Instrument einer permanenten persönlichen Einschüchterung, mittels derer sich dienstliche Willfährigkeit immer wieder von neuem erheblich steigern lässt.

So ist es kein Wunder, dass der Motor der verschüchternden Angst auch das in Gang hält, was man im weitesten Sinn als Kunstbetrieb bezeichnet. Für alle Bereiche dieses (immer stärker ökonomisch relevanten) Betriebes gibt es bestimmende Maximen und Theoreme. Und ein jeder, der sich darin behaupten möchte, hat sich diesen, unangesehen ihrer tatsächlichen Sinnhaftigkeit, anzupassen. Und nicht zögernd und widerspenstig, sondern selbstverständlich in heroischer Selbstverleugnung mit dem Brustton der Überzeugung.

Identitätsverlust

Angst essen Seele auf titelte Rainer Werner Fassbinder einen seiner Filme. Mit noch viel stärkerer Unerbittlichkeit aber wird die Kunst zum ersten Opfer der Angst. Denn keine Emotion beraubt den Menschen rascher und radikaler dessen, aus dem Kunst entspringt und durch das Kunst überhaupt erst erlebt werden kann, nämlich seiner unverwechselbaren eigen- und einzigartigen Identität und damit seines Selbstvertrauens.

Zur Illustration für die zerstörerische Wirkung der Angst mag jene Definition von Kunst dienen, die nicht nur für Sturm und Drang wie Romantik die theoretische Grundlage darstellt, sondern in ihrer undoktrinären Universalität durchaus auch auf die Kunst der Gegenwart anwendbar ist:

Poesie als Ursprung

Es handelt sich um Johann Gottfried Herders (1744-1803) Theorie von der Poesie als Muttersprache des Menschengeschlechts. Wobei das Wort Poesie nicht als Lyrik oder gar Literatur misszuverstehen ist, sondern als elementare, aus tiefster Emotion entspringende Mitteilung, in der Geste, Ton und semantische Bedeutung noch eine unteilbare Einheit waren, aus der sich erst später Musik, Wort, Schrift, Bild und Tanz entwickelten.

Diese "Muttersprache" bedeutet für Herder als letzte verbliebene Überlieferung aus paradiesischen Zeiten, zu denen Adam Kadmon gleich dem mythischen Orpheus durch die Intensität seiner Sprache die Welt evozieren und zu verändern mochte.

Eine Theorie übrigens, die durch die Forschungen des Münchner Musikwissenschafters Thrasybulos Georgiades über die griechische Tragödie im Jahr 1958 (Musik und Rhythmus bei den Griechen) ihre grundsätzliche Bestätigung fand.

Wer dieser Theorie nicht zustimmen möchte, mag sich an Friedrich Schiller halten, der die Kunst als "die Tochter der Freiheit" bezeichnet hat. Wem auch dies nicht gefällt und wer unbedingt Kunst in und aus Angst für möglich hält, der wird vom gegenwärtigen Kunstbetrieb ganz sicher reichlich bedient. (DER STANDARD, Printausgabe vom 22.4.2003)