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Eine Einsicht Victor Klemperers, die den Sprachpädagogen des Elisabethinums offenbar fremd ist.

Foto: AP/Knipperitz

Vor ein paar Jahren war ich auf der Hochebene von Asiago, nördlich von Verona und Vicenza, unterwegs, um die letzten Zimbern zu suchen. Ich traf ein paar greise Frauen und Männer, die sich noch in der Sprache ihrer Vorfahren, dem ältesten deutschen Dialekt, der bis heute überlebt hat, unterhalten konnten. Fast alle von ihnen erzählten mir, empört noch in hohem Alter, dieselbe traurige Geschichte: Als sie zu Zeiten Mussolinis in italienische Schulen gingen, war es ihnen verboten, selbst im Pausengespräch untereinander ihre Muttersprache zu verwenden. Der faschistische Staat anerkannte nur eine Sprache, und die war Italienisch. Entkam einem Schüler doch ein Wort in der verbotenen Sprache seiner Eltern, wurde der Übeltäter vom Lehrer vor die versammelte Klasse befohlen, und er musste den Mund öffnen, damit ihm der Lehrer hineinspucke und so die Liebe zur italienischen Sprache in ihn pflanze.

Fast überall, wo ich in Europa unterwegs war, haben mir die Angehörigen der kleinen Nationalitäten, die ich besuchte, ähnliche Geschichten erzählt. Der autoritäre Staat, der sich als Vaterland versteht, kann die Vielfalt an Muttersprachen, die auf seinem Territorium gesprochen werden, nicht dulden. Sie sind ihm ein Ärgernis, weil er seinen Zuständigkeitsbereich auf die Alltagskultur seiner Untertanen auszudehnen trachtet, und ein beständiger Anlass, die natürlichen Dinge administrativ, mit immer neuen Geboten und Verboten, Strafen und Schikanen zu regeln.

Keine Sorge, ich will damit keineswegs behaupten, dass am Elisabethinum in St. Johann/Pongau den Kindern von Migranten bald auf die beschriebene Weise dabei geholfen werde, sich widerspruchslos - und jedenfalls in ihrer eigenen Sprache wortlos - in das zu fügen, was vielen als Integration erscheint und doch nur sprachpolizeiliche Dummheit ist. Aber diese katholische Schule, die bisher über einen guten Ruf verfügte und sich in ihren - auf der vorzüglich gestalteten Homepage nachlesbaren - Grundsätzen auf die Kraft des Heiligen Geistes beruft, war jedenfalls von allen guten Geistern verlassen, als sie ihre Schüler und deren Eltern auf einen "Vertrag" verpflichtete: Gemäß diesem wird aus der Schule ein vaterländisches Territorium, auf dem, auch in der Pause, auch im Gespräch von Freunden, nur eine Sprache erlaubt ist.

Es war ohne jeden Sinn und ein geradezu mutwilliges Unterfangen, sich einen solchen Vertrag einfallen zu lassen. Wer auf der Homepage genauer nachsieht, wird feststellen, dass unter den 400 Schülern des Elisabethinums ganze 16 einen sogenannten Migrationshintergrund haben. Es ist also von schwer zu überbietender Lächerlichkeit, zu behaupten, es gelte das Anrecht der österreichischen Schüler zu schützen, in der Pause nicht vom Gespräch ausgeschlossen zu werden; man kann sich gut vorstellen, wie die 25 Österreicher durch die eine Migrantin, die statistisch auf sie kommt, ausgegrenzt und provoziert werden. Es gab schlicht keinen Anlass für diesen Vertrag. Aber vielleicht wird der Gemeinderat von St. Johann ja demnächst verfügen, dass an der Salzach die Robbenjagd verboten sei.

Der Wahn, das Leben mit immer neuen Verordnungen zu reglementieren und selbst für Probleme, die gar nicht vorhanden sind, administrative oder legistische Lösungen zu finden, erschafft gezielt Konflikte, wo vorher keine waren. Wie dieser Vertrag erweist, schreitet die Verkärntnerung Österreichs zügig voran, vor allem auch, was die Unverfrorenheit betrifft, mit der die Wirklichkeit verleugnet wird. Wie die 400 Jugendlichen vor den sechzehn, die allesamt die deutsche Sprache beherrschen, aber eben auch ihre Migrationssprachen noch nicht vergessen haben, geschützt werden müssen, so muss ja auch Deutschkärnten vor seiner eingesessenen slowenischen Bevölkerung geschützt werden, und gleich dem Territorium der Salzburger Schule ist ganz Kärnten ein einsprachiges Herrschaftsgebiet.

Noch einiges andere droht in Salzburg so zu werden, wie es in Kärnten bereits ist. Der Lehrervertreter der Schule, Wolfgang Wenger, übrigens ein Schriftsteller, und ein durchaus ernstzunehmender, hat den Wirbel kritisiert, den der "Vertrag von St. Johann" , der in die österreichische Schulgeschichte eingehen wird, hervorgerufen hat. In den Salzburger Nachrichten meinte er, dass es diesen Vertrag zwar gebe, aber keiner, der gegen ihn verstoße, deswegen aus der Schule "geschmissen" werde. Na bravo, aber trotzdem, lieber Wolfgang, ist es nicht gut, einen Vertrag zu schließen und denen, die ihn geschlossen haben, dann zu sagen, dass er ohnedies nicht eingehalten zu werden braucht. So werden die Salzburger Schülerinnen nämlich zu Kärntner Politikern erzogen, die schon lange wissen, dass Gesetze nichts gelten, Regeln jederzeit gebrochen und im Übrigen drauflos gelogen und betrogen werden darf, wie es einem gerade passt.

Wie immer, wenn etwas Dummes geschieht, werden die Leute, die davon hören, selbst sofort dümmer. Dass die FPÖ von dem Vertrag begeistert ist und verlangt, dass er österreichweit zur Anwendung komme, war zu erwarten, der ungewollten Zuspruch, den das Elisabethinum von dieser Seite erfährt, ist wohlverdient. Jene, die sich bei uns am innigsten bemühen, die Integration zu behindern, pflegen sie periodisch ja am lautesten einzufordern. Aber auch die Landeshauptfrau Burgstaller, immerhin von der Sozialdemokratischen Partei, findet den nutzlosen Vorschlag aus unerfindlichen Gründen hilfreich, und die Integrationslandesrätin Doraja Eberle von der ÖVP, bisher für ihre glaubhaft verfochtene Weltoffenheit bekannt, hat sich gar zu dem Kommentar hinreißen lassen: "Wenn jemand nicht Deutsch reden will, kann er auch schweigen."

Dieser Satz ist ungebührlich unlogisch und unerwartet bösartig. Unlogisch, weil die folgerichtige Conclusio aus dem Vertrag eigentlich lautet: Wer eine uns fremde Muttersprache hat, soll schweigen. Bösartig, weil sie den Migranten die Perspektive weist, ihre Muttersprache entweder zu verleugnen oder gefälligst die Pappn zu halten.

Dass ein solcher Vertrag pädagogisch nichts taugt, ist klar, die Kenntnis und Wertschätzung der eigenen Muttersprache ist bekanntlich die Voraussetzung dafür, andere Sprachen erlernen zu können. Was die Kinder der Migranten erfahren, ist jedoch, dass es erlaubte und verbotene Sprachen gibt und die eigene jedenfalls nichts wert ist. Freilich hat die Direktorin eine Ausnahme von der selbst gestellten Regel gewährt: Beim Lachen und beim Weinen, sagte sie, sei die Sprachenverordnung außer Kraft gesetzt. Ich dachte ja, beim Schuleingang hänge bestimmt die Tafel: "Hier wird Deutsch gelacht." Aber dem ist nicht so, in St. Johann darf weiterhin auf Türkisch oder Kroatisch gelacht werden, auch wenn es wenig Anlass dazu gibt.

In ihrem Leitbild (Homepage) führt das Elisabethinum als ersten Punkt an: "Als Kinder des einen Vaters einander Würde und Halt geben." Zur Würde des Menschen gehört, das haben mich die alten Leute aus dem Zimbernland gelehrt, dass er seine Muttersprache nicht verleugnen muss und sie dort, wo sie ihm frommt und nutzt, zum Beispiel in der Schulpause, auch gebrauchen darf. (DER STANDARD Printausgabe, 19.6.2010)