Den Koffer in der Hand, blickte er in meine Richtung, der Wind fuhr ihm durchs Haar, und ich las in den Seiten, die er mir zum Abschied geschenkt hatte. "Ich übersetze, also bin ich", sagt Sead Muhamedagiæ.

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Alois Hotschnig, geb. 1959 in Kärnten, ist Schriftsteller und lebt in Innsbruck. 2008 erhielt er den Erich-Fried-Preis. Zuletzt erschien der Erzählband "Im Sitzen läuft es sich besser davon" (Kiepenheuer & Witsch, 2009).

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In Wien stieg er zu. In St. Pölten sprach er mich an. Licht und Dunkel, Tag und Nacht kann ich unterscheiden, sagte er. "Farbvorstellungen habe ich nicht, aber oft habe ich festgestellt, wie unterschiedlich die Menschen sehen, dass sozusagen jeder bei etwas Gesehenem etwas anderes im Auge hat. Lange hatte ich Anfälle, die den epileptischen ähnlich waren. Das hing mit meiner Taufe zusammen. Ich hatte nämlich ein Problem, als ich mich hatte taufen lassen, meiner Mutter etwas davon zu sagen, weil sie als gläubige Muslimin es nicht hätte gutheißen können. Und so sind in meinem Inneren Spannungen entstanden, die sich durch diese Anfälle entladen haben. Zu einigen Ärzten bin ich gegangen, aber die konnten mir nicht wirklich helfen.

Erst, als ich mir gestattet habe, frei davon zu erzählen, von diesem Moment an habe ich keine Angst mehr davor gehabt. Aber es war doch immer wieder unangenehm, weil ich im Chor gesungen habe, und dann bin ich mitten in einem Konzert schwach geworden. Um solchen Situationen vorzubeugen, erzähle ich davon. Und so passiert es nicht mehr. Zu meinem täglichen Ritual gehört es, an die Menschen zu denken, mit denen ich in meinem Leben eine Art Begegnung gehabt habe, eine nähere Zusammenkunft. Und wenn ich etwas für diese Menschen tun kann, dann ist es, dass ich sie namentlich nenne, und mit meinem Finger gehe ich dann über die Namen dieser Menschen, mit der Fingerkuppe, ich berühre sie dadurch und schicke meine Gedanken zu ihnen.

Als ich vier Monate alt war, stellte meine Mutter fest, dass ich nicht sehe. Gleich darauf wurde ich nach Zagreb gebracht. Meine Mutter nahm sich dann vor, mich zu erziehen, als könnte ich sehen. Als ich drei oder vier Jahre alt war, sagte sie, morgen machen wir Bohnensuppe, und du hilfst mir dabei. Hier sind die Bohnen, aber es sind auch kleine Steinchen dabei. Die musst du jetzt bitte aussortieren. Dann hat sie mir ein Töpfchen gegeben, und ich habe Bohne für Bohne hineingegeben. Du weißt schon, was ein Stein ist, sagte sie. Und wenn du nicht sicher bist, nimm den Stein in den Mund, so wirst du lernen, wie ein Stein sich anfühlt und wie eine Bohne sich anfühlt. Dann wurden die Bohnen gekocht, und die Verwandten sind gekommen und haben gegessen, und Mutter fragte in die Runde hinein, hat euch die Suppe geschmeckt? Die Suppe war gut, sagten sie. Sead hat geholfen, sagte sie dann, er hat die Bohnen sortiert.

Gelegentlich mischte sie kleine Knöpfe zwischen die Bohnen, und kleine Steinchen waren ohnehin immer dabei. Ich musste lernen, wie man Knöpfe annäht, und wie man Wäsche wäscht, hat sie mir beigebracht, und wie man kocht. Damit du es kannst, sagte sie, und einmal niemanden nötig hast. Sie schickte mich in den Hof zu den anderen Kindern zum Fangenspielen. Wenn du erst einmal losgehst, dann wirst du schon jemanden fangen, sagte sie, und das stimmte, so ist es gewesen. Auf sie war Verlass. Auch auf mich soll Verlass sein. Damals im Hof beim Fangenspielen kam mir die Idee, dass auch der Wind blind ist wie ich, der hat auch keine Prognose, an die er sich halten kann. Ich hatte Spielzeug aus Papier, das warf ich dann in den Wind und war immer glücklich, wenn ich es gefunden habe, wo der Wind es versteckt hatte.

Es ist alles ein Abenteuer, wenn ich einen Satz beginne, ich weiß nicht, wie er enden wird, und trotzdem wage ich es, diesen Satz zu beginnen, wir könnten gar nicht anders. Man muss den ersten Schritt tun. Wie bei der Gymnastik, dort gibt es diesen schmalen Balken, auf dem man gehen muss, ganz aufrecht muss man da gehen. Beim ersten Mal hatte ich Angst. Aber dann dachte ich, du musst dich aufraffen, habe ich zu mir gesagt, und dann ist es gegangen. Ich denke, dass man sich aufrichten muss, dass man die Ohren spitzen muss und die anderen Sinne, damit auch vieles andere dadurch erfassbar wird, was allein durch das Sehen-Können eher unbemerkt bleibt.

Neun, zehn weitergehen

Der Schaffner öffnete die Tür und begrüßte ihn freundlich mit Namen. Sie wissen ja, umsteigen in Innsbruck, Herr Muhamedagić. In Innsbruck umsteigen, ja.

Meine beiden Großväter waren in Galizien in Gefangenschaft, sagte er, nachdem der Schaffner wieder gegangen war, und der eine, den ich kennengelernt habe, hat mir die Weichen für mein Deutsch gestellt. Eins, zwei, Polizei, drei, vier, Grenadier, fünf, sechs, alte Hex, sieben, acht, gute Nacht, neun, zehn, weitergehen, elf, zwölf, es kommen die Wölf. Das hat er immer wieder vor sich hin gesagt. Diese Worte lagen wie große Steine in der Landschaft meiner Kindheit und zogen mich an wie Zaubersprüche, weil ich sie nicht verstand. So fing ich an, Deutsch zu lernen.

In der Bibliothek meiner Schule gab es ein deutsch-serbisches Wörterbuch, in Blindenschrift sind es immer große Bände, und ich habe festgestellt, dass wir fünf Exemplare davon hatten. Ich ging zum Direktor und fragte, ob ich sie sozusagen legal bekommen könnte, damit ich mich nicht eines Diebstahls bedienen müsste, denn das wäre für mich etwas ganz Wichtiges. Der alte Herr hat es genehmigt, und so besitze ich auch heute noch dieses alte Wörterbuch.

Dann bin ich von Sarajewo nach Zagreb gekommen. Dort habe ich mir auch Bücher in Normalschrift angeeignet, obwohl ich sie nicht lesen konnte. Aber ich konnte immer jemanden finden, der sieht, und der würde mir dann schon helfen, dachte ich, und wenn der auch kein Deutsch verstand, er las es doch so, dass ich es entziffern konnte. Und so bin ich darin, auf jemanden zuzugehen, gut trainiert. Ich warte nicht wie eine hölzerne Maria darauf, angesprochen oder betastet zu werden, sondern ich rühre mich von selbst. Das Gefühl der Unzulänglichkeit muss nicht immer eine Attacke auf das Selbstwertgefühl sein. Es ist gut, manches eben nicht zu können und dass einem geholfen werden muss. Und immerhin, wer einen Blinden vierzig Schritte an der Hand führt, der gelangt ins Paradies, wird im Volksmund erzählt.

Ich höre, also bin ich

Was mir aber schon abgeht, dass ich nicht imstande bin, an einen Menschen, den ich gern habe, einen Blick zu richten, durch den allein ich ihm meine Zuneigung zum Vorschein kommen lassen kann, diese Möglichkeit ist mir nicht gegeben. Oder, dass ich auch nicht so genau wahrnehme, wenn ich von jemandem angeblickt werde. Und doch, wenn das goldene Fischlein käme und mir Wünsche erfüllen möchte, dann würde ich den Wunsch nach dem Sehen nicht hervorheben. Es wäre schön, all die vielen Filme zu erleben. Andererseits ist es vielleicht auch so, dass auf dem Gebiet der anderen Sinne mir Möglichkeiten geboten werden, die viele andere nicht so sehr haben. Ich bilde mir nicht ein, ein besseres Gehör oder einen besseren Geruchssinn als andere zu haben, aber ich bin doch trainierter. Und wenn ich jetzt sage, ich höre, also bin ich, dann hat das für mich schon eine Bedeutung.

In letzter Zeit sage ich, ich übersetze, also bin ich. Das heißt, seitdem ich mich mit dem Übersetzer in mir ausgesöhnt habe. Das hat lange gedauert, weil der den Schriftsteller in mir immer wieder bedroht und unmöglich gemacht hat. Dass das Übersetzen ein gutes Arbeitsfeld für mich sein würde, wusste ich vom ersten Text an, den ich ins Kroatische übertragen habe. Der Chandos-Brief von Hofmannsthal. Damit fing es an. Hofmannsthal, die Gedichte, es sind nicht sehr viele. Und Karl Kraus liebe ich auch, durch die Aphorismen, die ich übersetzt habe, und eines Tages, wer weiß, möchte ich Die letzten Tage der Menschheit auch machen.

Wenn ich mit einem Text etwas anfangen will, muss ich ihn lesen und wieder lesen. Das Lesezentrum verbindet sich mit meiner Fingerkuppe wie mit dem Auge, mit dem lesenden Auge, und dann, wenn mir etwas besonders gefällt, lese ich es mir selber laut vor. Schnitzler, Christine Lavant, Gert Jonke, Handke. Elfriede Jelinek. Und Bernhard, immer wieder Bernhard, Heldenplatz, Vor dem Ruhestand, und jetzt Auslöschung, mit der ich ein ganzes Jahr verbracht habe. In diesen Zeiten träume ich deutsch, und es kommt vor, dass manche Menschen in meinen Träumen deutsch sprechen, obwohl sie es in der Wirklichkeit nicht tun. Und es sind immer solche, die ich mag, die sprechen dann bei mir deutsch im Traum.

Jeder Text hat seine Zeit, seine Inkubationszeit. Bei Thomas Bernhard ist es besonders schwer, weil sich wie bei einem Arzneimittel die Nebenerscheinungen immer wieder bemerkbar machen, und dagegen muss ich ankämpfen.

Wenn sich aber diese kritische Distanz einmal herausgebildet hat, und vor allem, wenn ich den Rhythmus gefunden habe, dann kann ich sogar das Stadium erreichen, wo ich das Ganze genießen und als großes Glück erleben kann. Ich weiß, wie ich einen Kaktus berühre, dass er mir nicht wehtut. Man muss imstande sein, ein Ja, ein klar ausgesprochenes Ja zu sich selbst zu sagen, dann sagt man es auch zu einem anderen. Und wozu ich selbst nicht in der Lage bin, das vermag die Literatur."

Der Zug hatte Innsbruck erreicht. Ich begleitete ihn aus dem Wagen, und als ich wieder auf meinen Platz saß, sah ich ihn auf dem Bahnsteig stehen. Den Koffer in der Hand, blickte er in meine Richtung, der Wind fuhr ihm durchs Haar, und ich las in den Seiten, die er mir zum Abschied geschenkt hatte: "An einem Montagmorgen im Jänner wartete ich wie üblich an der Kreuzung, um hilfsbereiten Mitbürgern wieder einmal eine Chance zu geben." (Alois Hotschnig, DER STANDARD/Printausgabe 19.6./20.6.2010)