Ulrike Draesner: "Das Schweben ist nur möglich durch den Widerstand zur Schwerkraft. Das Schweben, die Leichtigkeit, das Schweben vor Glück ist wiederum mit der Liebe verbunden."

Foto: Regine Hendrich

Vom Liebesschweben und der Erdenblödigkeit. So hätte die Münchnerin Ulrike Draesner, die seit Mitte der 1990er-Jahre in Berlin lebt, ihren jüngsten Roman auch nennen können. Im Mittelpunkt des Buches steht die Astrophysikerin Harriet. Die Enddreißigerin lebt mit Ashley, einem englischen Luftfahrtingenieur, und dessen Teenager-Sohn in Berlin in einer Patchwork-Beziehung zusammen, schlägt sich mit den kurzatmigen Verhältnissen der kalten Arbeits- und Wissenschaftswelt - Mobbing, Projektarbeit - herum und hegt einen großen Traum: einen Flug ins All.

Bis eines Tages Ashley eine Radfahrerin anfährt und sich herausstellt, dass deren Ehemann Peter ist, vor mehr als 20 Jahren Harriets große Liebe. Es kommt, wie es kommen muss: Es entspinnt sich eine neue Liebesbeziehung - inklusive romantischer Klischees wie Candlelight-Dinner und einer Städtereise. Sowie liberaler Toleranz seitens der anderen Partner. Doch, man ist schließlich am Ende der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts, gut geht eine solche Liebe nicht. Peter, ein desillusionierter evangelischer Pfarrer, erliegt einem Herzinfarkt. Harriet gerät angesichts der Nachricht außer sich, schleicht sich heimlich ins Trauerhaus, deliriert eine Nacht lang, fängt sich aber wieder. Und das Buch klingt in einem emotional auswattierten recht offenen Ende aus.

"Ich wollte" , sagt Ulrike Draesner im Gespräch, "einen Liebesroman schreiben, der vom Plot her gar nicht sonderlich aufregend ist. Weil es gerade darum geht: die Klischees aufzuspießen, das Klischee zu bedienen. Oder auch das literarische Klischee zu nehmen und zu sehen, was passiert, wenn ich das in die Nullerjahre setze." Die Literaturwissenschafterin, die einst eine Hochschulkarriere zugunsten der Existenz als freie Schriftstellerin aufgab, weiß nur zu genau, dass angesichts ihrer Personenkonstellation sich umgehend Assoziationen einstellen, etwa mit Goethes Wahlverwandtschaften.

Nur haben ihre Personen - Harriet, die unter mehreren Kose- und Rufnamen auftritt, Ashley, der keineswegs zufällig so heißt wie eine Figur aus Margaret Mitchells Vom Winde verweht, aber eher harmlos, ja als Raumfahrtingenieur mit Flugangst arg lächerlich anmutet, der sehr irdische Theologe Peter, bei dem Managementtechniken die Metaphysik ersetzen, oder die irdisch-pragmatische Maria - den Wunsch nach Liebe, der aber mit postmoderner psychischer Abgeklärtheit kollidiert. Ihr sei, sagt Ulrike Draesner, seit längerem aufgefallen, wie virulent die romantischen Liebesideale noch seien, doch parallel dazu nehme der romantische Kommerz immer stärker zu.

Was ist die innere Landschaft der Figuren, wie sieht ihre Liebesgeologie aus? Das ist die zentrale Frage dieses nicht völlig überzeugenden Romans. Vertrackt und fein austariert sind die inneren Bezüge zwischen Wärme und Kälte, dem Wärmeschock der Liebe und der "Funktionskälte" (Draesner).

Von Naturwissenschaft zur Poesie, von Luft und Leichtigkeit hinüber zur Dunkelheit, auch einer emotionalen Schwerkraft, zu Nüchternheit und Erdenblödigkeit. "Blöde sein" kennt Draesner aus dem Mittelhochdeutschen, "da hat es in seinen Bedeutungen einen viel größeren Resonanzraum" . Und ein liebenswertes, leicht tumbes Staunen. "Ich meinte damit auch etwas ganz Spezifisches - das Ziehen der Erde. Nach allem, was Physiker mir erzählten, ist die Schwerkraft ein physikalisch vollkommen unbegriffenes Phänomen. Es ist die unbekannteste Kraft, die sie vorfinden. Der Körper wird dadurch fühlbar, dass es die Schwerkraft gibt. Andererseits ist das Schweben ja nur möglich durch den Widerstand gegen dieser Schwerkraft. Das Schweben, das luftige Moment, die Leichtigkeit, das Schweben vor Glück ist wiederum mit der Liebe verbunden."

Aber auch mit Sehen und Ausblenden. Harriett, beruflich mit der Bearbeitung von Aufnahmen beschäftigt, hat sich Bilder gemacht von ihrem Geliebten, die nicht deckungsgleich mit der Wirklichkeit sind. "Sie hat" , betont Ulrike Draesner, "etwas Wesentliches übersehen" , als Jugendliche wie als Erwachsene. In diese Lücken schleichen sich das Unerwartete und Egozentrik ein. Als Alternativtitel hat Draesner kurzzeitig "Die Liebesegoisten" erwogen, was auch durchaus einen Aspekt trifft: "Die Figuren kommen aus ihrer Einzelheitsblase nicht heraus. Eine ganze Portion Egoismus ist bei jedem in allen Handlungen dabei" , was schon ihr Motto betont, der Satz "Jeder Mensch ist eine kleine Gesellschaft" von Novalis.

Dieser Egoismus ist zugleich das Distanzschaffende zwischen den einzelnen Charakteren, aber auch zwischen den Figuren und den Lesenden. Das Karikaturistische nimmt gelegentlich überhand, was auch nicht grandios geschriebene, ergreifende, bittere Szenen ausgleichen können, der Schwindel etwa, der Harriet angesichts der Wiederbegegnung mit Peter wortwörtlich die Besinnung raubt, oder zwei brutale Triebabfuhrgeschehnisse. Hinzu kommt eine anspruchsvoll sprunghafte, hart geschnittene antipsychologische Dramaturgie. Vorliebe ist ein Liebesroman, der nicht mehr an die Liebe glauben kann. Nur noch an Sprache. (Alexander Kluy, DER STANDARD/Printausgabe 19.6./20.6.2010)