Ein "Arbeiterkind" habe eine Chance von zehn Prozent auf die Matura, ein "bürgerliches" Kind eine von 90 Prozent, klagen Experten.

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Wien - "Wie können wir das Thema ‚Zukunft des Lernens‘ eingrenzen?" , fragt Franz Fischler, Vorsitzender des Ökosozialen Forums zu Beginn der gleichnamigen Diskussion seine Sitznachbarin Christiane Spiel. "Was kann man bei Pisa evaluieren? Und stellt sich nicht die Frage, was man da überhaupt misst?" , setzt er nach.

Die Leiterin des Instituts für Bildungspsychologie an der Uni Wien meint, dass die Frage nach dem Messwert nicht nur für Österreich ein Problem sei und es vor allem nicht nur in der Bildung bestehe. "Wir haben eine ideologische Überfrachtung im Bildungsbereich. Es gibt gute Theorien, aber auch sehr viele Störfaktoren. Man braucht Lehrer, die das alles aufnehmen und auch etwas Neues einbauen wollen" , erklärt sie. Es müsse Routine erlangt werden, damit auch die Schüler neue Systeme annehmen. "Das braucht einen sehr langen Atem, den die Politik nicht hat. Sie hat ihn nur bis zur nächsten Wahl" , so Spiel.

Daraufhin erklärt sie die Phasen des konkret operatorischen Denkens, das zwischen dem 5. und 6. Lebensjahr einsetzt, sowie das formal operatorische Denken, welches manche Schüler gar nicht mehr erreichen würden. "Die Schule sieht eine fiktive Mitte."

Weshalb denn überhaupt eine Überfrachtung vorhanden sei, wenn sich die Forscher auf dem Gebiet der Bildung doch einig seien, fragt Fischler die Professorin, während Unternehmensberater Andreas Salcher schweigend den Kopf schüttelt.

"Die Forscher machen aber nicht die Politik" , reagiert Spiel. Änderungen, "die mich als Person betreffen" , seien ein Angriff auf das Selbstwertgefühl der Ausführenden, was in diesem konkreten Fall die Lehrer betreffe, aber auch in anderen Bereichen, außerhalb der Bildung, zum Tragen komme.

Schließlich wendet Fischler sich an Therese Mitterbauer, Vorsitzende der Jungen Industrie, mit der Frage, worauf die Jungunternehmerin bei Einstellungen achte. Neben dem Hinweis, dass natürlich auch die technischen Fähigkeiten wesentlich seien, messe sie den sogenannten "Soft-Facts" eine erhebliche Bedeutung bei. Die erste Frage, die sich ihr dabei stelle, sei, ob der Bewerber zum Unternehmen passt - dies sei nicht zuletzt auch eine Frage der Loyalität. Darüber hinaus müssten die Wertigkeiten richtig gesetzt sein, beispielsweise "der Hunger nach Erfolg und eine daraus resultierende Selbstmotivation" oder "Offenheit nicht nur gegenüber Personen, sondern auch gegenüber Kulturen" .

Ein Stichwort, das Fischler sich zum Anlass für seine erste Frage an Salcher nahm: Denn Offenheit unter den Schülern zu entwickeln war nicht zuletzt auch ein Ziel bei der Gründung der Sir-Karl-Popper-Schule in Wien, bei welcher Salcher beteiligt war. "Werden dort nicht wieder nur Eliten unterrichtet?"

Wo nur das Talent zählt

Salcher entkräftet diesen Vorwurf und betont, dass eher das Gegenteil der Fall sei. Denn erstens handle es sich um eine öffentliche Schule, und zweitens erfolge die Filterung ausschließlich nach dem Talent der Schüler. "Anders als sonst im österreichischen Schulsystem üblich, in dem drei Dinge zählen: Wo ist das Kind geboren? Was sind die Eltern? Und dann das Talent." Ein Schüler aus einer abgelegenen dörflichen Gegend habe als Arbeiterkind mit "herausragendem Talent" eine Chance von lediglich zehn Prozent auf die Matura. "Ein ‚bürgerliches Kind‘, das mit ‚überschaubarem Talent‘ in eine Akademikerfamilie hineingeboren wird, hat eine Chance von 90 Prozent." Hier sei eine Neuerung zwingend nötig. (Bath-Sahaw Baranow, DER STANDARD, Print-Ausgabe, 16.6.2010)