Wien - "Das hängt nur von Gott ab, ob jemand stirbt oder nicht", sagt Mohamed H. auf die Frage des Richters Norbert Gerstberger, was denn passieren könne, wenn man auf jemand einsticht. Ob man jemand mit einem Stich in die Brust töten könne, hakt Gerstberger nach. Das wisse er nicht, sagt Mohamed H. Und warum er dann noch gegen den Kopf seiner Schwester getreten habe, als sie schon am Boden lag und eine Lehrerin versuchte, ihn zurückzureißen? "Als ich das Blut sah, wurde mir richtig übel", sagt der Angeklagte. Deshalb habe er getreten.

Neun Geschwister in einer Fünf-Zimmer-Wohnung

Der junge Somalier sagt, er sei jetzt 15 Jahre alt - der Amtsarzt hat ihn im Zuge der Erhebungen allerdings deutlich älter geschätzt: Auf 25 bis 30 Jahre. Papiere, die sein Alter belegen könnten, gibt es keine - die gab es auch nicht im Zuge seines Asylverfahrens, das mit einem positiven Bescheid abgeschlossen wurde.

Mohamed H. war mit seiner Familie 2007 nach Österreich gekommen. Danach lebten sie in einer Fünf-Zimmer-Wohnung in Simmering und doch beengt - Mohamed H. hat neun Geschwister. Aufgrund seiner Altersangaben besucht er die 4. Klasse einer Hauptschule - vor Gericht braucht er allerdings einen Dolmetsch.

Daheim gab es mehr und mehr Probleme. Immer wieder kam es zu Streit - vor allem mit seiner Schwester Sawda. Er sei ein sehr streng gläubiger Moslem und "wollte nicht, dass ich mich mit anderen treffe", hatte die junge Frau bei der Zeugenbefragung durch die Polizei berichtet. Er habe sie auch immer wieder geschlagen. Ende Oktober 2009 kam Mohamed H. ins Krisenzentrum - er selbst habe das in die Wege geleitet, sagt der Angeklagte.

Häufiger Streit mit Schwester

Die Schwester, mit der er immer so viel gestritten hatte, sah er trotzdem noch fast jeden Tag - sie besuchten weiterhin die selbe Schule. Und als der Bruder ein Telefonat mithörte, bei dem herauskam, dass sie einen heimlichen Freund hatte, sei die Situation eskaliert, berichtete Sawda.

Lebensgefährliche Verletzung des Zwerchfells

Am 11. Dezember 2009 passte Mohamed H. seine Schwester nach der Schule ab, als sie gerade zum Bus gehen wollte, berichtet der Staatsanwalt. Er schrie sie an, schlug ihr ins Gesicht. Eine Lehrerin, die dazu kam, sah noch, wie Mohamed H. noch zweimal "mit voller Wucht" zuschlug. Mit der Faust - einmal gegen den Kopf, einmal gegen den Oberkörper. Was die Zeugin nicht sah: Der Bruder hatte dabei ein Messer in der Hand. Sawda erlitt einen Schnitt am Ohr und eine lebensgefährliche Verletzung des Zwerchfells.

Geschimpft, weil sie geglaubt habe, er esse Schweinefleisch

Der Angeklagte gibt vor dem Geschworenengericht zu, dass er auf seine Schwester eingestochen habe - aber alles andere leugnet er. Seine Schwester habe immer mit ihm geschimpft, weil sie geglaubt habe, er esse Schweinefleisch, sagt er aus. Sie habe ihn deswegen geschlagen, behauptet er.

So auch am 11. Dezember: Er habe nach der Schule auf der Straße ein Messer gefunden - er habe dies wegwerfen wollen. Fünf Minuten habe er schon einen Mistkübel gesucht, als er die Schwester traf, die auf ihn gewartet habe.

Sie habe ihn erneut geschimpft, weil er Schweinefleisch esse, und ihn wieder geschlagen. Da habe er zurückgeschlagen - und zugestochen. "Ist das nicht ein bisserl komisch, Ihre Verantwortung?", fragt Richter Gerstberger. "Ja, das ist eigenartig", gibt der Angeklagte zu.

Schwester wollte nicht aussagen

Die Schwester erscheint schwer verschreckt und verstört vor Gericht: "Ich will nicht aussagen - aber ich will, dass er bestraft wird", sagt sie. Das heißt, dass die Geschworenen ihre Aussagen vom Vorverfahren auch nicht berücksichtigen dürfen. Das Urteil: acht Jahre Haft wegen versuchten Mordes, nicht rechtskräftig: Staatsanwalt und Verteidigung legten Berufung ein. (Roman David-Freihsl/DER STANDARD, Printausgabe, 16. Juni 2010)