Das islamische Zentrum in der Gudrunstraße in Wien-Favoriten: Die Bezirksvorstehung versucht, das Zusammenleben "unaufgeregt" anzugehen - große Anrainerproteste blieben aus

Foto: DER STANDARD/Christian Fischer

Wien - "Stellen Sie sich vor, jemand bleibt ein paar Tage zu Besuch", sagt Kenan Güngör, "und dann beschließt er, bei Ihnen einzuziehen: Natürlich verändert das das Zusammenleben." Genau das, meint der Integrationsexperte, sei in den letzten 15, 20 Jahren passiert: Früher sei man in Österreich davon ausgegangen, dass Migranten wieder in ihre Heimat zurückkehren. Jetzt bleiben sie aber - "es würde mich wundern, wenn das nicht zu Konflikten führen würde", sagt Güngör.

Immer wieder entzünden sich diese Konflikte, wenn türkische Zentren - aufgeregte Bürger sprechen dann meist von Moscheen - gebaut werden, aktuell etwa in der Floridsdorfer Rappgasse (siehe Reportage unten). Und immer wieder taucht dabei Atib auf - die „Türkisch Islamische Union für kulturelle und soziale Zusammenarbeit in Österreich".
"Genau so ist es", sagt Atib-Sprecher Nihat Koca ruhig und lächelt freundlich, wenn man ihn fragt, ob er sich manchmal schikaniert fühlt von all den Protesten gegen seinen Verein. Und betont gleich wieder: "Atib ist aber für alle Verbesserungsvorschläge offen, wir sind sehr verlässliche Partner." Die Union ist Dachverband für 63 türkisch-islamische Vereine und hat etwa 80.000 Mitglieder, fast alle mit türkischen Wurzeln, 70 Prozent mit österreichischer Staatsbürgerschaft.

Die meisten der Untergruppen sind in Vorarlberg, in Wien gibt es nur sechs. Ihr Präsident ist der türkische Botschaftsrat Mehmet Emin Cetin. Einen ähnlichen Verband gibt es in Deutschland (dort heißt er Ditib), der Schweiz und den Niederlanden.

Gegründet wurde sie, weil die laizistische Türkei befürchtete, ihre zahlreich ausgewanderten Bürger in der Fremde an unkontrollierbare Moscheen zu verlieren. Mittlerweile jedoch sind die Verbände unabhängiger geworden. „Der türkische Staat beeinflusst uns überhaupt nicht", betont Koca. Atib finanziert sich über Beiträge der Mitglieder. Nur die etwa 50 Imame, die in den 60 Atib-Gebetsräumen predigen, werden von der Diyanet bezahlt, dem staatlichen türkischen Präsidium für Religionsangelegenheiten. Sie kommen aus der Türkei, werden dort ausgebildet und gehen nach einigen Jahren auch wieder dorthin zurück. Seit zwei Jahren besuchen sie Kurse des Außenministeriums, in denen sie über Österreich lernen sollen, bevor sie predigen. 

"Beten soll jeder, wo er will"

Religion ist nur einer von vielen Bereichen, um die sich Atib kümmert: Die Union bietet Nachhilfe für Schüler, Musikstunden oder Deutschkurse an. Die Atib-Homepage gibt es derzeit nur auf Türkisch, an einer Übersetzung wird gearbeitet. Das größte Interesse weckt der Begräbnisverein: Gegen eine Gebühr überstellt er im Todesfall die Leiche in die Türkei, kümmert sich um Behördenwege und das Begräbnis. 25.000 Familien sind registriert.

Mit diesen Strukturen verbunden ist freilich das Risiko, dass die Türken in Wien unter sich bleiben: "Beten soll jeder, wo er will. Aber dass Vereine zum Beispiel Kindergärten oder Nachmittagsbetreuung anbieten, ist problematisch. Gerade Kinder müssen möglichst früh in einem gemischten Umfeld sozialisiert werden", sagt Integrationsexperte Güngör.
Atib will sich, so heißt es offiziell, ohnehin mehr öffnen, mit der Stadt Wien gibt es schon jetzt zahlreiche Kooperationen. Als "wichtigen Partner, um unsere Angebote in die Communities zu tragen", bezeichnet Ursula Struppe, die Leiterin der für Integration zuständigen MA 17, den Verein, der besonders im Bildungs- und Gesundheitsbereich sehr aktiv sei. "Atib ist sehr um interreligiöse Kommunikation bemüht."

Keine große Aufregung

Bestätigt wird das auch in Wien-Favoriten, wo 2007 das große Atib-Zentrum in der Gudrunstraße eröffnet wurde - ohne großen Widerstand. "Atib hat uns damals informiert, obwohl sie das nicht mussten", erzählt der Büroleiter der Bezirksvorstehung, Franz Jerabek. „Wir haben kein Zaubermittel für das Zusammenleben, aber wir gehen das relativ unaufgeregt an." Beschwerden aus der Bevölkerung, etwa über Lärm oder widerrechtlich abgestellte Autos, würden an Atib weitergeleitet und dort behandelt. Und abgesehen von der FPÖ hätten alle Parteien an einem Strang gezogen.
"Jeder wird dort freundlich empfangen", sagt VP-Stadträtin Isabella Leeb über die türkischen Feste, an denen sie in Favoriten teilgenommen hat - als eine der wenigen Österreicherinnen. Das sei schade, "denn Atib könnte sicher noch mehr Positives bewirken, wenn sie ihre Veranstaltungen auf Deutsch bewerben würden".

Vereine wie Atib müssten sich außerdem deutlicher vom Bild des demokratiefeindlichen und rückständigen Islam distanzieren, das viele Menschen in den Köpfen hätten, sagt Güngör. "Die Anschläge vom 11. September haben vieles verändert: Seit damals gibt es eine Transformation von der Ausländerfeindlichkeit zur Islamfeindlichkeit." Christen gegen Muslime - in diesen „mittelalterlichen Diskurs" fühlt sich Güngör zurückversetzt. Ausländerfeindliche Botschaften finden da leicht Resonanz: „Politiker wie Heinz-Christian Strache sind gleichzeitig Treiber und Getriebene." (Andrea Heigl/Tobias Müller/DER STANDARD, Printausgabe, 12./13. Juni 2010)