Die herausragende Fähigkeit, Ereignisse, Stimmungen mittels eines magischen Moments, eines entscheidenden Augenblicks dermaßen authentisch wiederzugeben, dass die Aura der Zeit und der sozialen Umstände der auf dem Foto Abgebildeten klar erfassbar wird, machte Henri Cartier-Bresson (1908-2004) zur herausragenden Persönlichkeit unter den Fotografen des 20. Jahrhunderts.

Sein zwischen Journalismus und Kunst oszillierendes fotografisches Werk umfasst nicht nur die Zeitspanne von sechs Jahrzehnten, in seiner ästhetischen Qualität und geistigen, von sozialer Verantwortung, Demokratie und Gerechtigkeit geprägten Haltung, wirkte es auch stilbildend für nachfolgende Fotografengenerationen.

Unter der Ägide von Kurator Peter Galassi präsentiert das New Yorker Museum of Modern Art derzeit eine umfassende Retrospektive, akkordiert von einem opulenten Bildband: The Modern Century - Sein 20. Jahrhundert präsentiert das Œuvre des französischen Fotojournalisten in einer bisher nicht gesehenen Materialfülle und Bandbreite. Bereits Bekanntes vermengt mit unzähligen, bisher unpublizierten Bildern aus dem Nachlass, der von der Fondation Henri Cartier-Bresson verwaltet wird. Zwölf Kapitel illustrieren alle Facetten seines Schaffens: Menschen, Straßenszenen, Landschaften, Stillleben und Interieurs. Wichtig war Cartier-Bresson stets, den Menschen ins Zentrum seiner Kompositionen zu rücken.

Die Reportagen des unermüdlich reisenden Fotografen visualisieren in einprägsamer Form eine sich rasch verändernde Welt. Ein breitgefächerter Bogen über die historisch relevanten gesellschaftlichen, politischen und kulturellen Metamorphosen des 20. Jahrhunderts. Ein brillanter Essay des Ausstellungskurators dekuvriert neben der aus einer halben Million Negativabzügen bestehenden Bilderwelt auch die Gedankenwelt des Sohnes eines Pariser Textilfabrikanten. "Die Kunst der Photographie ist wunderbar anarchisch.

Ihre ästhetischen Triumphe und Traditionen sind untrennbar mit der chaotischen Arbeitswelt verbunden" , umschreibt Galassi Cartier-Bressons Stil. Dem reichhaltigen Fotomaterial sind auch Quellen, Notizen und Landkarten mit Cartier-Bressons Reiserouten zur Seite gestellt, die seine Reportagetätigkeit auf besondere Art visuell sichtbar machen. Wie feine Adern durchziehen seine Wege den Globus, wie kaum ein anderer formulierte er das Selbstverständnis der modernen Fotografie. (Gregor Auenhammer, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 12./13.06.2010)