Zu Hause bei Muayed al-Windawi klingelt es dauernd. Kleine Tassen mit starkem türkischem Kaffee und unzählige Zigaretten werden im übermöblierten Wohnzimmer der Familie konsumiert. Ein Wohnzimmer, das weiterhin vom bis eben noch wütenden Krieg geprägt wird. Die Klebebandstreifen, die die Fenster gegen den Luftdruck von Explosionen sichern sollten, sind noch nicht entfernt. Und die Laken, mit denen die Familie ihre Möbel bedeckt hatte, als sie die Stadt verließ, liegen noch auf den Polstern. Aber was der Krieg hauptsächlich verändert hat, das sind die Gespräche.

"Seit 1967 (vor der Machtübernahme der Baath-Partei, Anm.) haben wir uns nicht mehr frei unterhalten können", sagt Ahmed, der Flugingenieur ist. "Wir hatten Angst vor unseren Nachbarn, vor unseren Freunden und sogar vor unseren eigenen Gedanken", sagt er. "Die Angst steckte uns in den Knochen, sie war immer da und machte sich ständig bemerkbar." "Sie steckt immer noch unter der Oberfläche", sagt seine Frau Iman. "Erst wenn ich die Leiche von Saddam Hussein gesehen habe, fühle ich mich ganz sicher."

Ahmed und Iman waren während des Bombardements zu Hause. "Als die ersten Bomben fielen, haben wir gejubelt. Jeden Abend gingen wir zu Bett und wünschten uns gegenseitig noch mehr Bomben, größere Bomben", sagen sie lachend. "Wir fanden, dass sie wirklich lange gebraucht haben. Je mehr sich die Sache in die Länge zog, desto größer wurde unsere Verzweiflung", erzählt Ahmed. "Aber jetzt sind sie endlich hier, und ich hoffe, dass sie lange bleiben. Falls sie wieder abziehen, gibt es einen Bürgerkrieg. Sie sollten jetzt hier ein paar Jahre lang das Sagen haben. Wenn wir unseren eigenen Führer wählen sollen, dann ist es nur wieder das alte Lied: Es gibt ein Blutbad."

Selbstbestimmung

Muayed, der Hausherr, nahm seine Familie während des Bombardements zu seiner Mutter auf dem Land mit. "Ich habe drei Töchter, und dieser Stadtteil war nicht sicher", sagt er über den Adamiya-Distrikt. Der Professor der Staatswissenschaft an der Universität Bagdad ist weitaus weniger begeistert über die Anwesenheit der Amerikaner im Irak als seine Freunde. "Ich bin Nationalist und Panarabist. Sie haben uns vor unserem Diktator gerettet, und das ist ein Segen. Aber wir wollen nicht der 51. amerikanische Bundesstaat werden. Wir wollen uns selbst regieren und unsere eigenen Führer wählen." "Die Amerikaner haben so viele Zivilisten getötet. Sie haben Irakern ins Gesicht geschossen", wirft seine Tochter Dora ein. "Was für eine Befreiung soll das sein? Ich habe Angst vor den Amerikanern." Dora hat einen ihrer besten Freunde verloren. Ein Splitter einer Rakete flog in sein Schlafzimmer. Sie hat erst davon erfahren, als der Krieg vorbei war, aber sie kann sich noch gut daran erinnern, was für eine Angst sie ausgestanden hat, als der Krieg andauerte. "Wir hatten ein Gefühl, als wären wir auf der Titanic. Alle verabschiedeten sich in den Tagen, bevor die ersten Bomben fielen, voneinander. Unsere Herzen waren voller Angst." "Ich habe zwölf Einschläge von Kugeln im Dach", sagt Muayed und nimmt uns mit nach draußen, um uns das zu zeigen.

"Hier in der Gegend waren mehrere Einheiten der Fedajin, der Saddam-treuesten Soldaten. Vorige Woche kam es zu schweren Kämpfen. Als wir zurückkamen, lagen getötete Soldaten auf den Straßen", erzählt Muayed.

Er glaubt, dass nur sehr wenige Iraker die Amerikaner wirklich willkommen heißen. "Sie lächeln die Amerikaner an, wenn sie direkt auf sie zugehen, aber spucken aus, wenn sie ihnen den Rücken zuwenden."

Gewolltes Chaos

Wie viele Iraker glaubt er, dass die Amerikaner das Chaos, das in Bagdad herrscht, gewollt haben. "Nach einer Woche mit Plünderungen und Unruhen schreien die Leute nach Recht und Ordnung, und sie können rücksichtslos gegen uns durchgreifen."

Iman findet, dass Muayed übertreibt. "Es ist klar, dass einem die Leid tun können, die getötet wurden, aber diesen Preis mussten wir bezahlen. Denk doch nur an die Angst, die wir jetzt nicht mehr ausstehen müssen, und daran, dass wir jetzt hier sitzen und uns zanken können, das ist das Wichtigste", sagt sie. Alle Nachbarn kennen einige, die im Gefängnis waren oder unter Saddam Hussein verschwunden sind.
Iman kennt eine Geschichte, wie wenig dazugehörte, um angezeigt zu werden. "Eine Journalistin, die bei einer Frauenzeitung arbeitete, kommentierte einmal die Kleider der Frau von Saddam Hussein weniger schmeichelhaft. Nach wenigen Stunden holte die Polizei sie ab. Am nächsten Morgen fanden ihre Eltern sie vor der Haustür. Sie war grün und blau geschlagen, und man hatte sie mit Zigaretten verbrannt und ihr die Zunge rausgeschnitten. "Verstehen Sie? Wir konnten uns auf niemanden verlassen. Wir mussten darauf Acht geben, was unsere Kinder sagten, damit die Schule uns nicht verpfeifen würde. Die Lehrer mussten die Kinder angeben, wenn sie etwas Falsches gesagt hatten. Der Rektor musste das dann weiterrapportieren."

"Jeder Schultag begann mit: ,Lange lebe unser Präsident Saddam Hussein!'", sagt Thura, die an der Grundschule unterrichtet. "Ich überlege mir, was wir jetzt sagen sollen? Und was sollen wir in den ganzen Stunden machen, in denen wir den Kindern das Leben von Saddam Hussein nahe brachten und seine Tugenden und Taten? Zwei Wochenstunden waren in allen Klassen dem Studium des Lebens des Präsidenten vorbehalten", erzählt sie. Niemand hat eine Antwort. Man unterhält sich weiter über die Vergangenheit. Es ist zu früh, um sich über die Zukunft Gedanken zu machen.
(DER STANDARD, Printausgabe, 17.4.2003)