Wien - Die Beurteilung von Bauwerken, die in den "Blütephasen" totalitärer Regime entstanden sind, stellt jeden Betrachter vor fast unlösbare Probleme. Daran gewöhnt, künstlerische Merkmale ästhetisch und nicht etwa weltanschaulich zu beurteilen, muss er vor den Baukolossen des Sozialismus kapitulieren.

Allenfalls gewahrt er an sich Symptome eines latenten Unwohlseins: Der aufgehäufte Prunk, die marmorne Glätte hoch aufragender Fassaden sind zweifellos dazu angetan, den Betrachter zu überwältigen - man denke an die Kulturpaläste, deren berühmtestes, nichtrussisches Beispiel die Skyline von Warschau bis heute ziert. Zugleich wohnt dem Protz aber auch etwas Lügenhaftes, Unaufrichtiges inne: Die isolierten Einzelteile der sozialistischen Architektur treten untereinander in merkwürdige Spannungsverhältnisse.

Ästhetische Direktiven

Das jeweils Ganze soll mehr sein als bloß die Summe seiner einzelnen Teile. Zugleich lassen die repräsentativen Bauwerke der Stalin-Zeit ihren Betrachter oder Nachnutzer jederzeit spüren, dass er mehr zu würdigen habe als bloß die Sinnfälligkeit "schöner" Details und Proportionen. Die Bauwerke kommunistischer Regime sind Stein, Beton, Marmor et cetera gewordene Ideologie. Sie bilden auf idealtypische Weise die Ansprüche eines Gesellschaftssystems ab, das mehr will, als den wirtschaftlichen Mangel, den es produziert, notdürftig zu verwalten. Vom Terror gegen Andersdenkende zu schweigen.

Der russische Philosoph Boris Groys hat den Nachweis erbracht, dass die ästhetischen Direktiven der Stalin-Zeit nur dann zu verstehen sind, wenn man die Ideologie, aus der sie gespeist werden, tatsächlich ihrem Anspruch nach begreift: als die wahre Vollendung der Moderne. Die Imperative und Vorschreibungen der stalinistischen Architekturkritik gipfelten daher in einem Paradoxon: Neue Bauwerke sollten den "neuen Menschen" dienen. Sie durften sich an keiner herausgehobenen Stilphase der Architekturgeschichte orientieren. Verpönt waren daher "Formalismus, Schematismus und Eklektizismus" , aber auch Stilzitate aus der Klassik oder der Renaissance, so lange diese das Erscheinungsbild einseitig zu dominieren drohten.

Absolute Bauwerke

Verständlich werden diese Widersprüche freilich erst vor dem Hintergrund des dialektisch-historischen Materialismus: dem Prinzip des "Gesetzes der Einheit und des Kampfes der Gegensätze" . Lebendige Widersprüche machen laut dieser Lehre das gesellschaftliche Leben überhaupt erst aus. Jede "Einseitigkeit" wird als bürgerlich, als einseitig, tot und verrottet abgetan. In Stalin, könnte man sagen (und dabei an seine Epigonen Kim Il-sung und Kim Jong-il denken), werden alle Gegensätze auf totale, angeblich "schöpferische" Weise zusammengefasst.

Sich auf einen partikularen Standpunkt zu versteifen ist laut dem Gesetz dieses Denkens unfruchtbar und schädlich. Die Konsequenzen für die Künste und die Achitektur liegen auf der Hand: Erst die maximale innere ästhetische Widersprüchlichkeit macht ein Kunstwerk zu einem wahrhaft sozialistischen.

Das totale Bauwerk

Die Architekten der Stalin-Zeit mussten daher, um dem an sie gestellten Anspruch gerecht zu werden, "absolute" Bauwerke verwirklichen: am besten "hochqualitative" . Das Paradoxon wird somit behauener, bearbeiteter Stein. Nur das "totale" Bauwerk vermag alle denkbaren Gegensätze in sich aufzuheben, ohne deshalb eintönig oder bürgerlich-dekadent zu wirken. Das sozialistische Bauwerk ist daher das unmögliche Bauwerk. Die tatsächlich realisierten Bauten aber sind der nachgelassene Kitsch. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 08.06.2010)