Eva-Maria Silies
Liebe, Lust und Last
Die Pille als weibliche Generationserfahrung in der Bundesrepublik 1960-1980

Reihentitel: Göttinger Studien zur Generationsforschung.
Veröffentlichung des DFG-Graduiertenkollegs "Generationengeschichte" (Hg. von Bernd Weisbrod)
Bandnummer: 04

488 Seiten
Einband: gebunden, Schutzumschlag
Format: 14,5 x 22 cm
ISBN: 978-3-8353-0646-2
€ 39,90 (D) / € 41,10 (A) / CHF 62,90

Foto: Buchcover Liebe, Last und Lust/Wallstein Verlag

Zwängen und der familiären Enge entfliehen, mehr Eigenständigkeit und Freiheit, sich auszuprobieren, auch sexuell, ohne die Erfahrung in einer Beziehung oder Ehe gleichsam gesetzmäßig festlegen zu müssen: Das waren die neuen Erlebenshorizonte für junge Frauen Ende der Sechziger und Siebziger des vorigen Jahrhunderts.

In dieser Zeit des Umbruchs begannen sich die Entwürfe, wie Leben verlaufen kann, dass Beziehungen und Verantwortungen verhandelbar sind, in noch nie dagewesenem Ausmaß von den Lebenswelten der Müttergeneration zu unterscheiden. Ein verlässliches Verhütungsmittel machte die weitgehend angstfreie Neugestaltung von Beziehungs- und Familiengestaltung erst möglich: Die "Pille".

Medial propagiert aber "still genutzt"

Sie stand in den 60ern im medialen Fokus und ihre Auswirkungen wurden gesellschaftspolitisch intensiv diskutiert - galt sie in konservativen Kreisen doch als familienzersetzend und Wegbereiterin für den Untergang des Abendlandes; im linken, studentischen Kontext dagegen als Befreierin und unumgängliches Mittel für den Bruch mit den Elterngenerationen als NS-TäterInnen. Was beiden Seiten gemein war: Die Wortführer waren Männer, und die Rückschau auf diese Zeit wird bis heute auf das männliche Bild komprimiert.

"Deutungshoheit über den weiblichen Körper"

Eine junge Forscherin von der Leuphana Universität Lüneburg füllt nun in ihrer wissenschaftlichen Annäherung an diese gesellschaftliche Entwicklung eine große Auslassung: Sie bringt die Erfahrungen derjenigen, die die "Pille" unmittelbar tangiert hat, zu Gehör. Eva-Maria Silies' umfassende Dissertation, die nun in Buchformat vorliegt, stellt den weiblichen Ansatz in den Mittelpunkt und analysiert die Haltung der Anwenderinnen in Deutschland aus verschiedenen Perspektiven. Dabei stellt sie auch fest, dass Frauen nicht immer als die handelnden Akteurinnen, sondern "wiederkehrend auch Objekte, über die im Rahmen der Pillendiskussion bestimmt wurde", vorkommen: "Die '68er' waren ganz überwiegend eine männliche, hochgebildete und elitäre Erfahrungsgemeinschaft; die Pillenerfahrung hingegen umfasste einen Großteil der jungen Frauen der sechziger und siebziger Jahre und damit einen im Vergleich quantitativ wesentlich größeren Anteil der Kohorte." Diese Erfahrung wurde aber nicht wie andere generationelle Zugehörigkeiten lautstark vermittelt, konstatiert Silies: Laut äußerte sich nur der "Kampf um die Deutungshoheit über den weiblichen Körper".

Frauen reden

Silies hat sich als Stipendiatin des DFG (Deutsche Forschungsgesellschaft)-Graduiertenkollegs "Generationengeschichte" an der Uni Göttingen für ihre Studie "Liebe, Lust und Last" mit Frauen der ersten Pillengeneration befasst und deren Erfahrungen qualitativ ausgewertet. Nach einer präzisen Verlaufsentwicklung von der Einführung der Pille in Deutschland über die sich verändernden Rollen in der Beziehung, von der "bedrohten Moral" zur - aus "Expertensicht"- "umsorgten Frau", lässt sie Frauen reden: Warum sie sich die Pille verschreiben haben lassen, wie die Ärztinnen und Ärzte mit ihnen umgegangen sind, unter welchen Nebenwirkungen sie gelitten haben, ob und wie Verhütung partnerschaftlich verhandelt wurde.

Nebulöse Aufklärung

Die Erzählerinnen beschreiben zunächst die unzureichende Aufklärung ihrer Kinder- und Jugendzeit als Normverlauf: Bei Einsetzen der Menstruation wurde einer eine Binde in die Hand gedrückt, es hieß: "Das bekommst Du jetzt immer und musst jetzt aufpassen mit Jungs!" Als Informationsquelle dienten meist Standardwerke der Sexualliteratur, die Erlebnisse wenige Jahre älterer Freundinnen - und das Jugendmagazin "Bravo". Über das Heft erfuhren viele auch das erste Mal über die Pille, die in weiteren Medien wie dem "Stern" bereits ebenfalls Thema war. Die Frauen haben die mediale Auseinandersetzung mit dem Thema als eine in Erinnerung, die die Aufmerksamkeit auf "sexuelle Befreiung" richtete, aber die Frauen irgendwie vergaß: Die Erotisierung des Themas in der Presse - auch durch entsprechende Bebilderung - lenkte den Fokus darauf, sich zu fragen, "wie sieht frau denn "überhaupt aus". Der Zusammenhang zur Pille an sich wurde dadurch für die damals heranwachsenden Frauen in den Hintergrund gedrängt: Vieles blieb, wie die sexuelle Aufklärung selbst, im "Nebulösen".

Loslösungsprozess

Die Minderheit ließ sich die Pille als Teenager verschreiben - wenn,  aus medizinischen Gründen wie einer schmerzhaften Menstruation. Der Verhütungszweck spielt bei denjenigen eine Rolle, die mit der Pilleneinnahme erst nach dem Verlassen des Elternhauses begonnen haben: Zu Beginn eines Loslösungsprozesses, in dem erste sexuelle Erfahrungen gemacht wurden. In beiden Szenarien erwiesen sich die Mütter als erstaunlich kooperativ - eine Kluft durch Verständnislosigkeit ob der verschiedenen Lebensentwürfe wurde von wenigen konstatiert.

Schlechte Behandlung

Die Erfahrungen mit der Ärzteschaft dagegen waren nicht dermaßen erfreulich: "Also, teilweise erniedrigend auch, wie Ärtze sich verhalten haben", berichtet eine Frau. Viele kamen sich ob der Behandlung schutzlos und nackt vor. Die Konsequenz für die meisten war, dass sie sich an Frauenärztinnen hielten, so das machbar war - denn damals gab es nicht viele. Die Adressen der vertrauenswürdigen ÄrztInnen wurden sogar gehandelt, waren kostbares Gut: Dort wurde einer die Pille verschrieben, ohne wie Dreck behandelt zu werden.

Nebenwirkungen Nebensache

Die Nebenwirkungen der Pille der ersten Generation rückten durch die ausgestandenen (inneren) Kämpfe um ein Rezept ins Abseits; die meisten Frauen berichten wenn nur von Gewichtszunahme. Silies schreibt: "Im Gegensatz zu anderen Nebenwirkungen, deren Thematisierung im Interview eine deutlich größere Offenheit und Überwindung einer Schamgrenze erfordert hätte, war die Gewichtszunahme etwas verhältnismäßig einfach Benennbares, da sie nicht mit intimen Körperfunktionen verbunden war."

Keine Maschine

Beim Verhältnis zum eigenen Körper als etwas "Fremdes" gaben sich die Frauen offener: Sie kannten sich insofern wenig, nicht zuletzt durch eine wenig körperbezogene Erziehung. In dieser Beziehung lassen sich laut Silies zwei Umgangsformen ausmachen: "Entweder wurde die Pille als sicheres Verhütungsmittel akzeptiert, und dann war der mögliche Einfluss auf den Körper meist kein Thema [...]. Oder aber Frauen entwickelten zunehmend ein Bewusstsein dafür, dass die Pille ein Medikament war, das in ihre Körperfunktionen eingriff und durch dessen Wirkung sie sich unwohl fühlten." Die Neue Frauenbewegung wurde durch zweiteren Ansatz bestimmt: Der Körper sei eben keine Maschine.

"Männer bumsen doch rum"

Ein weiterer Aspekt, der in einer zu beobachtenden Abkehr von der Pille bemerkbar wird, ist die Rolle der Männer bei der Pillenerfahrung der Frauen: Sie waren die primären Gesprächspartner in Verhütungsfragen und speziell der Pille, schreibt Silies. Einige Frauen halten fest, dass sie in keiner Weise zur Einnahme "gedrängt" wurden, aber eines war klar: Verhütung war durch die Pille eindeutige Frauensache geworden. Die Neue Frauenbewegung verlagerte die Diskussion von der Ermächtigung der Frau durch Selbstbestimmung ihrer Fertilität auf deren Ausgenutztsein als alleinig Verantwortliche für die neue Sicherheit, die vorrangig der männlichen Sexualität zum Vorteil gereichte: "Weil DIE bumsen doch rum. Frauen sind doch sowieso eher die [...] so untergründig war es dann doch schon, dass die Männer die Rummacher sind, und dann sollen sie sich bitte kümmern."

Erfahrungstrias

Silies zeigt in ihrer Studie so die Ambivalenzen und Mehrdeutigkeiten des Themenkomplexes, die mit der Pillenerfahrung aufgeworfen werden, feingliedrig und umfassend auf: Durch das Sprechen lassen der Protagonistinnen wird deutlich, dass trotz der Befürchtungen und Nebenwirkungen und unterschwelligen Machtverschiebungen für sie die "Pille" eine sichere Möglichkeit war, Sexualität ohne Angst zu leben. "Es war letztlich eine Trias von Erfahrungen, die sich mit der Pille verband", resümiert sie, "manchmal eine Last, häufig aber auch ein Weg zu Lust und Liebe". Wie oft im Leben. (bto/dieStandard.at, 10.6.2010)