Österreichische Polarforscher erkunden, mit welchen Strategien sich Mikroben, Bakterien und Algen vor niedrigsten Temperaturen und hoher UV-Strahlung schützen.
Schon als ihr Großvater ihr Geschichten der Polarforscher Scott und Amundsen vorlas, wusste Birgit Sattler, dass sie einmal die Antarktis mit eigenen Augen sehen und erkunden wollte. Heute, knapp 100 Jahre, nachdem Roald Amundsen und Robert Falcon Scott ihren Wettlauf zum Südpol starteten (siehe Wissen), hat Sattler bereits elf Expeditionen ins polare Eis hinter sich. 2002 hat sie als erste Österreicherin den Südpol erreicht. Zuletzt war die Limnologin vom Institut für Ökologie der Uni Innsbruck für sechs Wochen in einem der unwirtlichsten Gebiete der Welt unterwegs, um gemeinsam mit der Montana State University mikrobielle Untersuchungen durchzuführen: in den McMurdo Dry Valleys in der Ostantarktis, von wo auch Scott seinen Marsch Richtung Pol begann.
"Es war diesmal mit bis zu minus 25 Grad halbwegs erträglich", schmunzelt die Tirolerin, die sich ganz der Erforschung von Leben unter Extrembedingungen verschrieben hat. Organismen finden sich selbst in den McMurdo Dry Valleys, einer wüstenhaften Mondlandschaft, in der es trockener als in der Sahara ist und die Temperaturen auf unter minus 70 Grad fallen können.
"Die Mikroben und Bakterien dort sind dem Menschen weit voraus, was die Anpassung an extreme Umgebungen betrifft", sagt Sattler. "Man kann sie einfrieren, auftauen, wieder einfrieren – es ist ihnen egal." Verantwortlich dafür sind Gefrierschutzproteine, die ein Absterben der Zellen auch bei Temperaturen weit unter dem Gefrierpunkt verhindern.
Um mehr über die extremophilen Lebewesen herauszufinden, die tausende Jahre in Kältestarre verbringen können, nahmen die Forscher bei stundenlangen Märschen vom Tal auf 2000 Meter hohe Gletscher Proben von Eiskernen, um sie später vorsichtig im Labor aufzutauen und zu untersuchen. Sattler ist aber auch jenen winzigen Lebensformen auf der Spur, die, eingeschlossen im Eis, weiter aktiv sind. "So lange ein Wasserfilm zwischen den Eiskristallen besteht, kann ein Stoffwechsel passieren", sagt sie. "Die Organismen sind mit dunklen Sedimenten vergesellschaftet, die durch die Sonne erhitzt werden und das Eis rundherum im Mikrometerbereich schmelzen lassen." Aber auch in Eishöhlen, in die kaum Licht vordringt, wurde mikrobielle Aktivität beobachtet.
Erstmals getestet wurde auch ein Laserscanner, der es ermöglicht, aus der Luft zu ermitteln, wo es Leben im Eis gibt. Dazu werden fotosynthetisch aktive Pigmente der Mikroben gemessen, die auf Laserstrahlen einer bestimmten Wellenlänge reagieren. Ein Prototyp soll in den kommenden Monaten entwickelt und später in den Polargebieten eingesetzt werden.
Aeroplankton und Fallout
Weitere Aufschlüsse sollen außerdem Luftproben geben, die Sattler aus der Antarktis mitgebracht hat, um zu sehen, wie weit Mikroorganismen, welche die Gletscher besiedeln, über die Luft verfrachtet werden. Die Limnologin konnte gemeinsam mit Kollegen bereits vor einigen Jahren erstmals nachweisen, dass Bakterien auch in eiskalten luftigen Höhen leben und sich fortpflanzen können. In Kollaboration mit ihrem Bruder Wolfgang Sattler, Biochemiker an der Med-Uni Graz, konnte sie nun anhand von Fettsäuremustern verschiedene Quellen des Aeroplanktons bestimmen.
Untersucht wird außerdem, wie sich radioaktive Depositionen – aus der Atmosphäre in die Polargebiete transportiertes Material, das aus dem Fallout von Kernwaffen und Tschernobyl stammt und sich auf den Eisflächen angesammelt hat – auf die Organismen auswirkt. "Auf den Gletschern, insbesondere in den Alpen, gibt es die höchste radioaktive Belastung", erklärt der Umweltphysiker Herbert Lettner von der Uni Salzburg, der die Anreicherungsprozesse erforscht.
Das alpine Hochgebirge dient vielen heimischen Polarforschern als ideales Vergleichs- und Testgebiet. Eine Gruppe rund um den Pflanzenphysiologen Cornelius Lütz von der Uni Innsbruck etwa hat die Zellstrukturen von rund 35 polaren und alpinen Pflanzen untersucht, um mehr über die Überlebensstrategien bei extremen Temperaturen und hoher UV-Belastungen herauszufinden. Dabei fanden sie bei den meisten Pflanzen Veränderungen in den Chloroplasten, die einen effizienteren Energiestoffwechsel innerhalb der kurzen Vegetationsphasen ermöglichen. Unklar ist jedoch nach wie vor, was Polarpflanzen dazu bringt, selbst im Dauertag Fotosynthese effektiv zu betreiben.
Erforscht wird auch der Schutz vor UV-Licht auf Zellebene: Die Pflanzen lagern dazu Flavonoide (Farbstoffe) in ihren Zellsafträumen ab. Eine ähnlich abschattende Wirkung haben auch bisher unbekannte Verbindungen, die Lütz und seine Kollegen in Algen auf Gletschereis entdeckt haben. "Es sind rotbraune Stoffe, die UV absorbieren und ähnlich wie Gerbstoffe antioxidativ wirken", berichtet Lütz, der nun gemeinsam mit Pharmakologen versucht, die Strukturen der Stoffe, die auch für die Biotechnologie interessant sein könnten, zu klären.
Fest steht: Nach einem längeren Winterschlaf der österreichischen Polarforschung, die auf die Entdeckung von Franz-Josef-Land im Nördlichen Eismeer im Jahr 1873 zurückgeht, machte sich in den vergangen Jahren neuer Schwung bemerkbar. Forscher verschiedenster Fachrichtungen widmen sich den sensiblen Ökosystemen und deren globaler Bedeutung für das Weltklima. So wurde der Ökologe Andreas Richter von der Uni Wien kürzlich mit der Leitung eines internationalen Projekts zur Erforschung der gewaltigen Kohlenstoffspeicher im Permafrost der Arktis betraut. Diese könnten durch die Klimaerwärmung gelöst werden und vermehrt in die Atmosphäre gelangen.
"Wir sind keine Einzelgänger mehr", freut sich Birgit Sattler, die die ersten Treffen der Österreichischen Gesellschaft für Polarforschung in ihrem Wohnzimmer veranstaltete. Im September findet in Obergurgl eine Tagung statt – diesmal in größerem Rahmen. (Karin Krichmayr/DER STANDARD, Printausgabe, 02.06.2010)