"That Face" : Schreckensszenen einer Familie

Foto: Anja Köhler

Bregenz - Der erste Eindruck trügt, und zwar gewaltig. Die lächelnde Familie auf dem von Weihnachtsmotiven umrahmten Foto gibt es nicht oder nicht mehr. Dafür eine Jugendliche, die im Internat in einer nächtlichen Folterszene eine Schülerin bis zu deren Bewusstlosigkeit mit Valium vollstopft, das sie von ihrer medikamenten- und alkoholabhängigen Mutter geklaut hat.

That Face der englischen Autorin Polly Stenham, derzeit am Vorarlberger Landestheater in Bregenz als österreichische Erstaufführung zu sehen, ist eine gnadenlose und analytische Betrachtung einer sich im freien Fall befindlichen Familie, ein Psychogramm einer Tragödie, die unausweichlich auf ihren Höhepunkt zusteuert und dennoch Hoffnung zumindest zulässt. Und es ist das erstaunlich souveräne Debütstück Stendhams, die bei der Londoner Uraufführung 2007 gerade 19 Jahre alt war und nach dem fulminanten Erfolg in einem Atemzug mit Sarah Kane oder Mark Ravenhill genannt wurde.

Es sind von Verletzungen und Enttäuschungen gezeichnete Figuren, die in dem zerstörerischen Mikrokosmos Familie agieren. Neben der 15-Jährigen Mia sind da noch ihr 18-jähriger Bruder Henry und ihre Mutter Martha. Henry hat die Schule abgebrochen und lebt mit der Mutter in einer verwahrlosten kleinen Wohnung. Martha, von Verlustängsten geplagt, vereinnahmt ihren Sohn über die Maßen;, Henry wiederum übernimmt in der vom Vater verlassenen Familie jene Verantwortung, die die tablettensüchtige Mutter längst abgegeben hat.

Es ist eine fatale Abhängigkeit, in der sich die beiden verzweifelt winden. Und sie spitzt sich mit der Ankunft von Hugh (Jens Ole Schmieder), dem Exmann und Vater, der seit Jahren mit neuer Familie in Hongkong lebt, weiter zu.

Mit David Penn ist in Bregenz ein Regisseur am Werk, der als Assistent von Harold Pinter und Tom Stoppard gearbeitet hatte und mit eigenen Inszenierungen etwa am Bristol Old Vic oder am Royal National Theater London zu sehen war. Mit großer Präzision setzt er in Paul Lerchbaumers reduziertem, von einem Doppelbett dominiertem Bühnenbild die einzelnen Figuren in Szene, ohne je das Ganze aus den Augen zu verlieren.

Penn entwickelt eine dichte, schnörkellos-klare Geschichte, deren Sogwirkung auch auf den Leistungen des Schauspielensembles beruht. Gundula Rapsch glänzt als intensiv-expressive Martha, Alexander Julian Meile als Henry überzeugt als ein Zerrissener zwischen Verantwortungsbewusstsein und Sehnsucht nach eigenem Leben. Olga Wäschers Mia ist eine zugleich souveräne wie hilfesuchende Jugendliche, Jens Ole Schmieders Hugh ein Geschäftsmann, der auch bei Menschen nach dem Kosten-Nutzen-Prinzip vorgeht. Dazu kommt noch Katrin Hauptmann als Mias oberflächlich-sorglose Freundin Izzy. Intensive zwei Stunden. (Brigitte Kompatscher/DER STANDARD, Printausgabe, 2./3. 6. 2010)