Wien - Österreichs Selbstständige bekommen seit heute, Dienstag, den vertragslosen Zustand zwischen Ärztekammer und Gewerbe-Sozialversicherung (SVA) zu spüren, sie müssen die Kosten für die Behandlung beim niedergelassenen Arzt bar vorstrecken. Die SVA appellierte an die Kammer, ihren Ärzten zumindest bei sozial Bedürftigen weiter die Akzeptanz der E-Card zu empfehlen.
Die Ärzte können nämlich selbst entscheiden, ob sie weiterhin mit der SVA abrechnen möchten. Es ist keine vertragliche Festlegung dafür nötig. Die SVA empfiehlt deshalb, beim Arztbesuch nachzufragen, ob der jeweilige Arzt weiterhin mit der SVA zusammenarbeitet. Die Ärztekammer lehnte eine Empfehlung jedoch vehement ab.
"Unglaubliche Erleichterung"
SVA-Vize-Obmann Martin Gleitsmann erinnerte in einer Aussendung daran, dass 60 Prozent der Versicherten ein monatliches Einkommen von unter 1.000 Euro hätten. "Für diese Versicherten wäre es eine unglaubliche Erleichterung, wenn sie auch in der vertragslosen Zeit bargeldlos zum Arzt gehen könnten - dem kann sich eine Standesvertretung mit einer derart hohen Verantwortung nicht entziehen", erklärte er. Die Ärztekammer sollte ihren Mitgliedern empfehlen, zumindest bei Patienten in der Mindestbeitragsgrundlage die E-Card auch weiterhin automatisch zu akzeptieren.
Abfuhr der Ärztekammer
Von der Ärztekammer kam jedoch postwendend eine Abfuhr. Sprecher Martin Stickler erinnerte daran, dass die SVA von sich aus die nun angesprochenen Versicherten - nämlich vor allem neue Selbstständige und Ein-Personen-Unternehmen - rekrutiert habe, obwohl diese strukturell gar nicht in eine Kasse wie die SVA mit generellem Selbstbehalt gehörten. Es sollte eine Initiative gesetzt werden, um diese Versicherten den Gebietskrankenkassen zuzuordnen.
E-Mail an die Ärzte
In einem Newsletter hält die Ärztekammer die Ärzte an, auf keinen Fall E-Cards zu akzeptieren. Ärzte sollen ihre Mitarbeiter anweisen, "keine E-Card, auch nicht zur Überprüfung des Versichertenstatus, zu stecken, da jedes Stecken vom Hauptverband registriert und gegen die Ärzteschaft verwendet wird". Und weiter: "Sollte irrtümlich ein Regelfall bei der SVA abgebucht werden, stornieren Sie diese Buchung bitte wieder!"
Anlass für die Erinnerung der Ärztekammer: "Laut Berichten von Ärztinnen und Ärzten sollen bereits heute Vormittag einzelne Praxen von SVA-Versicherten aufgesucht worden sein, mit der Aufforderung an die Ärzte, doch die E-Card zu stecken." Die Ablehnung sei für die Patienten "ein deutliches Signal, dass Sie keinen Vertrag mit der SVA haben und dass Versicherte der SVA nicht mehr im Sachleistungssystem behandelt werden".
"Auf Selbstbehalt verzichten"
Ärztekammer-Präsident Walter Dorner forderte die SVA auf, in Härtefällen auf den Selbstbehalt für die Patienten zu verzichten. Er sieht in der Frage jener Bedürftigen, die das Arzthonorar nicht vorstrecken können, die SVA am Zug. "Die Gewerbeversicherung hat lange genug Zeit gehabt, für dieses Problem vorzusorgen. Das hat sie jedoch in sträflicher Weise verabsäumt." Die SVA habe in der Krankenversicherung Rücklagen in dreistelliger Millionenhöhe, um soziale Härten unbürokratisch und rasch zu vermeiden, meinte er.
Gesundheitsversorgung gesichtert
Aus der Wiener Ärztekammer betonte Vizepräsident Johannes Steinhart, dass die Gesundheitsversorgung während der vertragsfreien Zeit gesichert sei. Neben den Ordinationen stehe in Wien wie üblich der Ärztefunkdienst zur Verfügung, dieser sei vom vertragslosen Zustand ausgenommen. Der SVA und der Wirtschaftskammer warf er vor, ein "Managed Care"-System einführen zu wollen, gegen das sich die Kammer "zum Wohle unserer Patienten" massiv wehre.
Senkung der Ärztetarife
Hintergrund des Konflikts ist eine von der SVA gewünschte Senkung der Ärztetarife. Diese wird damit argumentiert, dass die SVA-Tarife um mehr als 50 Prozent über jenen der Gebietskrankenkassen lägen, im Labor sogar um mehr als 100 Prozent. Vergangenen Herbst hatte es bereits eine Vertragseinigung gegeben, die vom SVA-Vorstand aber wieder verworfen wurde. Der alte Vertrag wurde noch bis 31. Mai verlängert, weitere Verhandlungen brachten keinen Durchbruch. Seit heute gilt daher der vertragslose Zustand. Die Ärzte sind damit in ihrer Tarifgestaltung frei, die Patienten erhalten von der Kasse aber nur 80 Prozent der bisherigen Tarife zurück.
Bachinger: Ärzte sollen E-Card akzeptieren
Der niederösterreichische Patientenanwalt Gerald Bachinger appelliert hingegen an die Ärzte, zumindest von sozial schwachen SVA-Versicherten auch weiterhin die E-Card zu akzeptieren. Dass die Ärztekammer ihre Mitglieder um das Gegenteil ersucht, sei eine "äußerst perfide Vorgangsweise", so Bachinger. Früher seien der SVA vor allem Großverdiener zugeordnet worden, so Bachinger, was auch die höheren Tarife erkläre. "Das stimmt heute absolut nicht mehr". Der Patientenanwalt hält es deshalb für "unglaublich", dass die Ärztekammer ihren Mitgliedern sogar mit Klagen und Disziplinarverfahren drohe, sollten sie weiterhin die E-Card akzeptieren. Generell sei das, was hier passiere, eigentlich eine "Todsünde" im System der Pflichtversicherung, denn in diesem System müsse man dafür sorgen, dass die Patienten ordentliche Leistungen bekämen, so Bachinger. Der derzeitige Zustand sei deshalb "unhaltbar und untragbar".
Schelling: Ärztekammer ruft zum Rechtsbruch auf
Der Hauptverband der Sozialversicherungsträger wirft der Ärztekammer vor, zum Rechtsbruch aufzurufen. Die Empfehlung, die E-Card nicht einmal zur Überprüfung des Versichertenstatus zu akzeptieren, widerspreche dem E-Card-Gesamtvertrag, sagte Präsident Hans-Jörg Schelling. Die E-Card sei bei jedem Arztbesuch zu "stecken", so Schelling. Der Arzt müsse prüfen, welche Versicherung gelte, außerdem sei weder die Rezepturausstellung noch die chefärztliche Bewilligung gekündigt, und auch für Überweisungen brauche man die Karte. "Das Stecken der E-Card ist für uns ein Muss", betonte er. Gegen die Ärzte werde dies keinesfalls verwendet, es herrsche strengster Datenschutz. Für den vertragslosen Zustand äußerte Schelling grundsätzliches Verständnis.
Demonstration in Wien
Unter den betroffenen Patienten macht sich freilich Unmut breit. Aus diesem Grund findet heute ab 14 Uhr eine Demonstration vor dem Gebäude der Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft in der Wiedner Hauptstraße statt. Ab 16 Uhr gibt es eine Kundgebung vor der Ärztekammer auf dem Franziskanerplatz im ersten Bezirk.
Der vertragslose Zustand hat vorerst zu keinem Ansturm auf Ambulatorien und Spitalsambulanzen in Wien geführt. Bei der SVA verzeichnet man einen "schlagartigen Anstieg" der Anfragen bei der Telefon-Hotline 050808-3000, sagte der stellvertretende Generaldirektor Thomas Mück. Am Dienstag seien es allein bis Mittag rund 1.400 gewesen, in der Vorwoche nur 500 pro Tag. Wirklich weiterhelfen kann die Gewerbe-Kasse den Versicherten freilich nicht, denn sie weiß laut Mück selber nicht, welche Ärzte entgegen der Empfehlung ihrer Kammer die E-Card doch akzeptieren: "Wir haben keine verlässlichen Aussagen, welche Ärzte eine Rechnung legen und welche sagen, sie verrechnen mit der SVA."
Minister setzt Frist von zwei Monaten
Gesundheitsminister Alois Stöger (SPÖ) hat sich am Dienstag vor dem Ministerrat unterdessen durchaus verärgert über den nunmehrigen vertragslosen Zustand zwischen der Sozialversicherungsanstalt der Gewerblichen Wirtschaft (SVA) und der Ärztekammer gezeigt. "Sich jetzt zurückzulehnen geht nicht an", meinte Stöger. Die Sozialpartner sollen in ein bis zwei Monaten eine Lösung finden, ansonsten müsse die Politik aktiv werden.
Der vertragslose Zustand könne jedenfalls nicht ewig dauern, denn die Versicherten müssten versorgt sein, betonte Stöger. Auf die Frage, ob er für einen Gesamtumbau des Systems eintrete, erklärte der Gesundheitsminister: Man solle nicht aus einer Situation heraus gleich das Gesamte infrage stellen. (APA/red)