Sie besetzen braches Land an den Stadträndern. Sicherheit finden sie hier nicht.

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Elvira Pabla hat aufgehört zu zählen, wie oft sie vor den Trümmern der Existenz stand. Ihr Enkelkind im Arm, hat sie sich dem Bulldozer vor ihrer Hütte entgegengestellt und ist dem Tränengas gewichen. Ihr Besitz wurde mit Benzin übergossen und verbrannt. Immer wieder hat sie in ihrem Leben von vorn begonnen, "ich falle hin und stehe wieder auf. Etwas anderes bleibt mir auch nicht übrig."

Es habe sich gelohnt, sagt Pabla und betritt einen der notdürftig gezimmerten Holzverschläge. Licht sickert durch die Ritzen, auf dem lehmigen Boden steht ein zerbeulter Wasserkanister, von der Decke hängen Plastiksäcke. Ihr Stolz sind ein paar Enten, die den Vorgarten zwischen Brettern nach Essbarem durchkämmen. "Ich habe ein besseres Leben gesucht und gefunden, ich fühle mich hier sicher."

Ihre Hütte ist eine von 150 eines Armenviertels am Rand von Pasacaballos an der Nordküste Kolumbiens. Der Weg zu ihr führt raus aus dem Dorf, vorbei an Müll und Dornengestrüpp, und mündet in eine Lehmstraße. Kinder spielen zwischen den Baracken, der Wind reißt an Plastikplanen. Es ist staubiges und unerlaubt in Besitz genommenes Niemandsland. Und es sind vor allem Frauen, die sich darauf eine neue Existenz aufbauen.

Die Bewohner der Bretterbuden kommen aus unterschiedlichsten Teilen Kolumbiens. Die meisten gerieten zwischen die Fronten der rechten Paramilitärs, linken Farc-Guerilla und Armee. Der militärische Konflikt schwillt ab, das UN-Flüchtlingskommissariat geht dennoch von drei Millionen Binnenvertriebenen aus. Viele lassen sich an den Stadträndern sichererer Regionen nieder und werden von der Polizei immer wieder gewaltsam vertrieben. Es ist eine der größten Herausforderungen, denen sich der neue Staatspräsident wird stellen müssen. Dieses Wochenende wird gewählt.

"Es gibt rundum so viel braches Land, und hier streiten sie sich um zwei Hektar" , sagt Reinhard Oster und deutet über die Ebene, die in der Ferne nur von den Schloten einer Fabrik unterbrochen wird. Der Deutsche kam Ende der 1970er-Jahre nach Pasacaballos, als im Fischerdorf noch kein Sack Zement zu kaufen und das wenige Kilometer entfernte Cartagena eine Tagesreise entfernt war.

Er half beim Aufbau des Hilfswerks Funscri der vor einigen Jahren verstorbenen Salzburger Ordensfrau Herlinde Moises. Heute leitet er dessen Geschäfte und betreibt eine Eisenwarenhandlung. Zwei Jahre musste er auf Rat der Botschaft raus aus Kolumbien; sie sah sein Leben durch mafiose Verbände bedroht. Jetzt setzt er sich mit seinen Helfern für das nach Moises benannte Barrio ein. Dass es nicht erneut dem Boden gleichgemacht wurde, dafür hätten auch Protestbriefe aus Österreich an die Bürgermeisterin gesorgt, sagt er.

Wohlwollend beobachtet er aus dem Augenwinkel zwei Männer, die Maß an einer Bude nehmen. Sie kämen vom Vermessungsamt. "Das ist ein Riesenfortschritt. Man wird sich hüten, hier noch einmal Panzerwagen durchzuschicken."

Strom und Wasser gibt es nicht. Letzteres pumpt ein Hotel der nahen Ferienhalbinsel Barú ab, Kinder holen es aus dem Nachbardorf. Seit kurzem besitzen 60 Familien Sickergruben. Davor mussten für die Notdurft Säcke herhalten, die am Wegesrand entsorgt wurden.

Fehlender Zusammenhalt

Sie lebte 30 Jahre im Choco, das schlechte Leben habe sie aus der roten Zone hierher getrieben, erzählt eine Nachbarin Pablas, "aber ich vermisse den Zusammenhalt der Leute " . Die ältere Frau stemmt die Arme in die Hüften und macht ihrer Empörung Luft. Erst vergangene Nacht sei bei ihrer Tochter am Randes des Viertels eingebrochen worden, man habe unter anderem Bretter entwendet. Sie tausche nun mit ihr die Hütte, im Inneren des Barrios sei es sicherer.

Zu tun gebe es hier genug, doch zu verdienen nichts. Wer von den Männern Glück hat, kommt in der Industriezone von Cartagena unter, meist als Hilfsarbeiter. Frauen bleibt der Dorfaufbau überlassen, für die Fabriken wird zudem gekocht und geputzt. Pabla verdient damit im Monat umgerechnet 50 Euro. Es ist weniger als ein Drittel des gesetzlichen Mindestlohnes. Sie komme dank der Hilfe ihrer Kinder damit durch, sagt sie. "Außerdem habe ich ja meine Enten. Zehn habe ich schon verkauft."

Es ist drückend schwül. Die Dächer aus Wellblech und dunklen Planen bieten nur leidlich Schutz vor der Sonne. Andere Familien weiter draußen besitzen nicht einmal das, sagt Oster. "In der Regenzeit wird es hart. Das Leben in Kolumbien hat sich in den vergangenen Jahrzehnten verbessert. Aber die Armen sind heute so arm wie damals." Hier im Barrio gehe ein Drittel der Kinder nicht zur Schule. "Die Menschen sind froh, überhaupt überleben zu können."

Am Eingang zum Slum stehen erste Fundamente, Oster hat den Bau eines Kindergartens initiiert. Einen der Wege dorthin haben die Bewohner nach Nelson Mandela benannt. Ein anderer heißt "Straße der Hoffnung". Da und dort entstehen winzige umzäunte Gärten. "Sie sind ein gutes Zeichen" , sinniert Pabla, "die Menschen fühlen sich hier langsam zu Hause." (Verena Kainrath aus Cartagena/DER STANDARD, Printausgabe, 29.5.2010)