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Daniel Ellsberg ist heute ein älterer Herr mit wachen Augen. In den 1970er-Jahren war er der "gefährlichste Mann in Amerika" , weil er die schmutzigen Geheimnisse der US-Regierung an die Presse weitergab.

Foto: AP/Nick Ut

STANDARD: Henry Kissinger hat Sie einst den "gefährlichsten Mann Amerikas" genannt. Wie fühlt es sich an, so gefürchtet zu sein?

Daniel Ellsberg: Noch immer ganz gut. (lächelt) Ich bin 1968, noch bevor Richard Nixon ins Amt kam, in den Besitz der ersten Dokumente gelangt, die eine systematische Täuschung der amerikanischen Öffentlichkeit in Sachen Vietnam belegten. Der Krieg dort war nicht zu gewinnen, und alle im Pentagon wussten das. Der Konflikt wurde trotzdem eskaliert. Das allein hätte dem neuen Präsidenten noch nicht wirklich zu schaffen gemacht. Aber ich hatte auch Geheimdienst-Unterlagen aus dem Büro Nixons, die nukleare Drohungen und die Flächenbombardements in Laos und Kambodscha beschrieben. Deswegen hat mich Kissinger damals so bezeichnet und alles daran gesetzt, mich zu stoppen. Sie haben mich bedroht und unter Druck zu setzen versucht. Dieselben Leute, die später in die Büros der demokratischen Partei im Watergate-Gebäude eingebrochen sind, haben versucht, Informationen aus der Praxis meines Psychiaters zu stehlen.

STANDARD: Die "Pentagon Papers" wurden trotzdem öffentlich.

Ellsberg: Die "New York Times" druckte die erste Geschichte darüber am 13. Juni 1971. Eine Woche lang erschienen die Artikel, dann wurde der "Times" die Veröffentlichung verboten. Die "Washington Post" und andere Zeitungen machten weiter. Ich wurde zwei Jahre später als erster Amerikaner in der Geschichte wegen der Weitergabe geheimer Dokumente an die Presse vor Gericht gestellt - und freigesprochen. Damals war die Gesetzeslage in den USA noch eine ganz andere, das Recht war auf meiner Seite. Heute - unter Präsident Barack Obama - wird ein Mann, der ehemalige Geheimdienstmann Thomas Drake, aufgrund der verschärften Gesetze nach 9/11 gerichtlich verfolgt. Er hat E-Mails an Zeitungen geleakt. Ein Freispruch ist für ihn viel schwerer zu bekommen.

STANDARD: War die US-Demokratie unter Nixon in einer besseren Verfassung, als sie es jetzt ist?

Ellsberg: Absolut. Damals musste Nixon seine Gesetzesbrüche im Geheimen durchführen. Es war wahrscheinlich, dass er dabei nicht erwischt werden würde. Aber dann passierte ihm das Watergate-Missgeschick. Der größte Unterschied ist, dass der demokratisch dominierte Kongress damals viel liberaler war als der Kongress mit ebenfalls demokratischen Mehrheiten heute. Wäre Nixon heute Präsident, würde er das gesetzgeberische Erbe Dick Cheneys mit Freude ausnützen. In den Bush-Jahren gab es eine Art Putsch der Exekutive in den USA, in diesem Klima hätte sich Richard Nixon wohlgefühlt. Kreditkartenauszüge, E-Mails, was immer - die Geheimdienste verfügen heute völlig legal über alle Informationen. Das Material für Erpressungsversuche wird immer mehr. Das sind Möglichkeiten, von denen Leute wie Nixon nur träumen konnten. Wir haben heute in den USA die Infrastruktur eines Polizeistaates. Sicher, es ist noch kein Polizeistaat, aber nur, weil wir ihn noch nicht angeschaltet haben. Dafür fehlt noch ein weiteres 9/11.

STANDARD: Fühlt sich auch der ehemalige Verfassungsrechtsprofessor Barack Obama wohl damit?

Ellsberg: Ich bin im Wahlkampf für ihn aufgetreten und ich habe ihn gewählt. Er hat kein Problem damit, weil er jetzt eben Präsident ist. Ich kann mir keinen Präsidenten vorstellen, der freiwillig Macht aufgibt, die sich einer seiner Vorgänger erkämpft hat. Dafür müssten schon der Kongress und die Justiz sorgen. Obama ist wie alle Politiker. Er will wiedergewählt werden. Das ist legitim. Aber er muss aufpassen, dass er vor lauter Beschäftigung mit der Rechten die Wahlen nicht bei den Linken verliert, weil er so pragmatisch und prinzipienlos erscheint.

STANDARD: Die USA befinden sich in Afghanistan wieder in einer ähnlichen Situation wie in Vietnam. Präsident Obama und das Pentagon schicken immer mehr Soldaten an die Front. Die Kämpfe werden immer blutiger, das Ziel der Operation dagegen immer diffuser.

Ellsberg: Was ich in Vietnam gelernt habe, ist sehr relevant für Afghanistan. Es gibt keinerlei Perspektive, dort zu gewinnen. Obama hat diesen geerbten Krieg aus innenpolitischen Gründen zu seinem Krieg gemacht, weil er wie Präsident Lyndon Johnson kalkuliert. Der Krieg soll ihn vor Angriffen der Republikaner und auch aus seiner eigenen Partei schützen. Wie Johnson kann er es sich nicht leisten, als Feigling dazustehen. Viele Menschen, vor allem Afghanen, werden sterben, weil Obama sich innenpolitisch schützen will. Hätte er seinen Generälen nicht die Ressourcen zugestanden, die sie wollten, wären sie zurückgetreten. Und Obama wäre vorgeworfen worden, die USA in einem - in der allgemeinen Meinung noch immer gewinnbaren - Krieg geschwächt zu haben.

STANDARD: Glaubt auch das Pentagon, dass dieser Krieg noch gewonnen werden kann?

Ellsberg: Ein hoher pensionierter Militär hat mir unlängst gesagt, dass es in der US-Armee keinen General gibt, der das glaubt. Selbst David Petraeus, der Chef des US-Centcom, und Afghanistan-Kommandeur Stanley McChrystal wissen meiner Ansicht nach, dass mit dem derzeitigen Truppenstand keine substanziellen Fortschritte zu machen sind. Wir wissen, dass McChrystal 80.000 zusätzliche Soldaten gefordert hat. Er hat 30.000 bekommen. Das war in seiner Kalkulation der erste Schritt. Alle Truppen, die aus dem Irak abgezogen werden, sollen dorthin verlegt werden. Wenn Obama in seiner Rede zur Lage der Nation davon gesprochen hat, die Soldaten binnen 15 Monaten wieder abzuziehen, dann war das eine bewusste Lüge in Johnsons Tradition. Es ist lächerlich anzunehmen, dass afghanischen Truppen die US-Kräfte ersetzen könnten. Der frühere US-Botschafter in Afghanistan, Karl Eikenberry, hat das in seinen - auch der Presse zugespielten - Berichten an Washington Ende 2009 klar gemacht. Und es sagt auch viel, dass Obamas AfPak-Beauftragter Dick Holbrooke, der sowohl Erfahrungen in der Regierung in Washington und in Vietnam hat, dieser Tage so kleinlaut ist.

STANDARD: Wie schätzen Sie die Kriegsgefahr im Iran ein?

Ellsberg: Wenn man alles ins Kalkül zieht, ist es sehr wahrscheinlich, dass Israel den Iran angreifen wird. Ich halte es sogar für möglich, dass es im August sein könnte, noch bevor die USA die irakische Luftraumüberwachung an die Regierung in Bagdad übergeben. Im diesem Fall wird Präsident Obama nicht viel anderes übrig bleiben, als Jerusalem zu unterstützen – auch wenn er die Aktion ablehnt. Es muss heute verteufelt viele in Washington geben, die über Pläne für einen möglichen Irankrieg Bescheid wissen. Ich sage den Leuten deswegen: Macht nicht, was ich getan habe. Wartet nicht zu lange damit, Dokumente vorzulegen. (Christoph Prantner, DER STANDARD, 29./30.5.2010)