Die ÖNB sammelt seit Jahresbeginn auch das heimische Web: "Man wird auch noch in Jahrhunderten nachvollziehen können, wie die Republik im Jahr 2010 getickt hat", so Johanna Rachinger, die Generaldirektorin der Nationalbibliothek.

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STANDARD: Seit fünf Jahren kämpfen Sie um einen neuen Tiefspeicher. Denn die Lagerkapazitäten werden 2012 erschöpft sein. Die Kulturministerin konnte aber kein Sonderbudget aushandeln. Müssen Sie die Bücher ab dann am Minoritenplatz stapeln - vor dem Fenster von Claudia Schmied?

Rachinger: Nein, wir haben uns für ein, zwei Jahre Luft schaffen können durch ein umfangreiches Digitalisierungsprojekt: Die historischen Zeitungen werden schneller gescannt, als wir es vorhatten. Sie kommen daher nicht mehr in die Ausleihe - und können in einem Dachbodenmagazin gelagert werden. Dieses ist zwar nicht klimatisiert, aber unsere Restauratoren haben keine Einwände geäußert. Wir werden uns auch weiterhin für den Tiefspeicher am Heldenplatz einsetzen. Aber wenn ich mir die Budgetsituation anschaue, schätze ich die Chancen gering ein, dass wir das Projekt rasch realisieren können.

STANDARD:  Wenn schon nicht am Minoritenplatz: Einen Lagerplatz werden Sie brauchen.

Rachinger: Wir sind auf der Suche nach Alternativen. Gibt es geeignete Gebäude im Besitz der Bundesimmobilien-Gesellschaft? Wie schauen die Lagerangebote der Privatwirtschaft aus? Diese Fragen wollen wir bis zum Spätsommer geklärt haben.

STANDARD: Laut einer Studie ist der Tiefspeicher die kostengünstigste und umweltverträglichste Lösung: Die Errichtungskosten sind zwar höher als bei einem Hochspeicher am Stadtrand, die Transport- und Klimatisierungskosten aber weit geringer. Ein angemietetes Lager kann daher gar nicht sinnvoll sein.

Rachinger: Ein Ersatzlager wird sicher hohe Kosten verursachen. Und es fehlt die Nachhaltigkeit. Es ist kein empfehlenswertes Projekt. Aber ich habe gelernt, dass die Politik nicht immer nachhaltig denkt.

STANDARD: Da ja die digitalisierten Bestände physisch nicht mehr unbedingt benötigt werden: Könnte man sie nicht im Regierungsbunker in St. Johann lagern?

Rachinger: Nein, selbst ein ausgezeichnetes Digitalisat kann das Original nur beschränkt ersetzen. Ich denke an die Buchforschung, die Einbandkunde oder die Provenienzforschung. Die ÖNB als wissenschaftliche Bibliothek muss garantieren, dass die Originale rasch der Wissenschaft zur Verfügung gestellt werden.

STANDARD: Ist es überhaupt noch sinnvoll, alles zu sammeln, was gedruckt erscheint? Es gibt doch ohnedies von fast jedem Buch die digitalen Daten.

Rachinger: Ich meine: Ja! Es muss pro Land zumindest eine Bibliothek geben, die von den gedruckten Werken ein Exemplar sammelt. Das muss nicht jede Landes- oder Universitätsbibliothek machen. Das ist die Aufgabe einer Nationalbibliothek. Das handhabt man weltweit so - und sollte auch nicht infrage gestellt werden.

STANDARD: Obwohl Sie sich vorgenommen haben, auch alle digitalen Inhalte dauerhaft zu sammeln. Wie weit sind Sie mit dem Projekt?

Rachinger: Es wurde bereits in den Realbetrieb übergeführt. Im März 2009 konnten wir eine Novelle zum Mediengesetz erwirken: Die ÖNB ist nun berechtigt, die Inhalte des österreichischen Webs zu sammeln, und verpflichtet, Born-Digital Media zu sammeln, also alles, was nur online erscheint. Wir sammeln daher seit Jahresbeginn das österreichische Web: Ein Crawler geht in bestimmten Abständen über die gesamte at-Domain - und sammelt alles, was an diesem Tag auffindbar ist.

STANDARD:  derStandard.at z. B. verändert sich aber permanent.

Rachinger: Das stimmt natürlich. Wir können gar nicht den Anspruch haben, das Web lückenlos zu sammeln. Die Speicherkosten würden in nicht finanzierbare Höhen schnellen. Keine Bibliothek sammelt lückenlos: Man geht nach dem Zufallsprinzip vor. Man soll einen Eindruck gewinnen können. Deshalb sammeln wir auch Websites zu besonderen Events. Wir haben zum Beispiel alles, was in Zusammenhang mit der Bundespräsidentenwahl erschienen ist, gesammelt. Man wird also auch noch in Jahrhunderten nachvollziehen können, wie die Republik im Jahr 2010 getickt hat - oder was in jener Zeit interessant war.

STANDARD: Wie können all diese Online-Daten eigentlich dauerhaft gespeichert werden?

Rachinger: Im Bereich der Web-Archivierung speichern nicht wir die Daten, das macht das Bundesrechenzentrum. Um das Risiko eines Datenverlusts gering zu halten, war uns ein Partner wichtig, der nicht so leicht in Konkurs gehen kann. Gespeichert wird auf großen Festplatten - und es werden natürlich Back-ups gemacht. Zudem sichern wir die Daten auf Bändern. Diese lagern wir tatsächlich im Regierungsbunker in St. Johann. Dort haben wir ein Depot für heikle digitalisierte Daten.

STANDARD: Dann lag ich ja mit meinem Vorschlag gar nicht so falsch. Die Digitalisierung der Sammlung ist eines Ihrer zentralen Projekte. Wie weit ist man da schon?

Rachinger: Angesichts unserer 8,5 Millionen Bücher und Objekte müssen wir Prioritäten setzen. Wir wählen einerseits Themenbereiche aus, die häufig gefragt werden, und andererseits Objekte, die sehr fragil sind, also zum Beispiel Inkunabeln - das Projekt ist bereits abgeschlossen - und historische Zeitungen. Im Rahmen unseres Zeitungsdigitalisierungsprojekts haben wir schon knapp sechs Millionen Seiten im Netz.

STANDARD: Kurzer Einwurf: Es gibt keine Volltextsuche.

Rachinger: Das wäre enorm teuer, das können wir uns derzeit nicht leisten. Es gibt aber eine Ausnahme: Durch ein EU-Projekt wurde die Digitalisierung von 500.000 Seiten inklusive Volltextsuche finanziert. Ein weiterer Schwerpunkt ist die Fotografie, da gerade die visuellen Medien gefragt sind. Wir haben bereits 250.000 Fotos und Porträts aus unserem Bildarchiv im Netz. Letztes Jahr starteten wir die Digitalisierung unseres Plakatbestands. Unser Ziel ist es, bis 2012 alle 100.000 Plakate gescannt zu haben. Bis Ende 2011 werden zudem alle bereits wissenschaftlich bearbeiteten Papyri - immerhin 8000 Stück - digitalisiert sein. Und im Rahmen des Projekts Alex digitalisieren wir österreichische Gesetzestexte: Diese Daten werden stark von Historikern, auch aus den Nachfolgestaaten der Monarchie, nachgefragt. Ach ja: Digitalisiert werden auch die audiovisuellen Medien, zum Beispiel Audiokassetten mit Lesungen von Erich Fried.

STANDARD: Werden nicht auch die Inhaltsverzeichnisse der Sammelbände digitalisiert?

Rachinger: Ja. Wir haben alle Inhaltsverzeichnisse seit 1992 gescannt und machen laufend weiter. Bisher haben wir die Titel von 800.000 Beiträgen erfasst. Das Projekt IV-Scan - IV steht für Inhaltsverzeichnis - erleichtert die Arbeit der Benutzer sehr. Früher musste man sich ein Buch bestellen und nachschauen, um zu wissen, wer darin welchen Beitrag veröffentlicht hat. Und nun bekommt man die Information gleich am Bildschirm. Wir konnten feststellen, dass die Bücher, deren Inhaltsverzeichnisse digitalisiert sind, weit öfter als früher entlehnt werden. Es hat sich wieder bewahrheitet: Was im Netz ist, wird wahrgenommen.

STANDARD: Man kann ja seit ein paar Jahren von zu Hause aus auf die Datenbanken zugreifen. Dennoch steigt die Zahl der Lesesaalbenützer. Ist das nicht sonderbar?

Rachinger: Nein, mir war es von Anfang an ein Anliegen, den Servicebereich auszubauen. Deshalb wurden zum Beispiel die öffentlich zugänglichen Bereiche modernisiert und die Öffnungszeiten erweitert. Wir haben nun von Montag bis Samstag durchgehend bis 21 Uhr offen - auch im Sommer. Es gibt überall WLAN, es gibt eine Lounge mit Getränkeautomaten und so weiter. Unsere Angebote werden enorm gut angenommen. Ein weiteres Ziel muss es sein, auch am Sonntag offenzuhalten. Ich hoffe, dass wir das ab 2012 finanzieren können.

STANDARD: Die Jahreskarte ist mit zehn Euro äußerst günstig. Könnten Sie nicht den Preis anheben - und Mehreinnahmen lukrieren?

Rachinger: Natürlich könnte ich das - und in ein paar Jahren bin ich vielleicht dazu gezwungen. Andere große Bibliotheken verlangen weit mehr. Aber ich möchte den Zugang zu den Lesesälen und den Informationen leistbar halten. Zwei Drittel unserer Benützer sind Studenten, die nicht viel Geld haben.

STANDARD: Man balgt sich mitunter um die schönen Arbeitsplätze.

Rachinger: Deshalb bin ich froh, dass wir vom benachbarten Völkerkundemuseum einen Raum dazubekommen haben: Vor ein paar Wochen haben wir ihn als Austriaca-Lesesaal eröffnet. Weitere Erweiterungsmöglichkeiten sehe ich aber nicht.

STANDARD: Die Restaurierung des Augustinerlesesaals ist abgeschlossen, die Kartensammlung erhielt mehr Platz. Gibt es überhaupt noch Projekte für Ihre nächste Amtsperiode - abgesehen vom Tiefspeicher?

Rachinger: Oh doch, etwa das Literaturmuseum in der Johannesgasse. Die Mittel für die Adaptierung des ehemaligen Hofkammerarchivs - 2,2 Millionen Euro - sind bereits gesichert. Die Fassade wird bis 2011 generalsaniert, danach können wir das Museum einrichten. Es passt hervorragend ins Hofkammerarchiv. Nicht nur, weil Franz Grillparzer Direktor war und weil sein Arbeitsraum erhalten blieb: Die denkmalgeschützten Regale haben eine unglaubliche Aura. Sie werden bei den Präsentationen eine wichtige Rolle spielen. Das Konzept stammt noch von Wendelin Schmidt-Dengler, dem verstorbenen Leiter unseres Literaturarchivs. Wir sind der Meinung, dass die österreichische Identität stark durch die Literatur geprägt ist. Mit den Nachlässen von Ingeborg Bachmann oder Robert Musil, mit den Vorlässen von Peter Handke und anderen Autoren haben wir bedeutende Bestände. Und die wollen wir präsentieren.

STANDARD:  Sie zeigen im Prunksaal regelmäßig Ausstellungen: Mitunter erschlägt die Architektur die Exponate, mitunter sind die Schautafeln zu dominant. Wäre nicht eine separate Ausstellungshalle wünschenswert?

Rachinger: Wir sehen uns nicht primär als Museum, unsere Intention ist es, unsere eigenen großartigen Bestände herzuzeigen. Unsere gegenwärtige Ausstellung Juden, Christen und Muslime mit den alten Schriften passt meiner Ansicht nach sehr gut in den Prunksaal. Wir sind eine Bibliothek - das ist unser Kerngeschäft. Da haben wir noch einiges umzusetzen. Ich konzentriere mich daher lieber auf das Projekt Tiefspeicher. (DER STANDARD, Printausgabe, 27.5.2010)