Gegen den Strom des Öko-Alarmismus: Andreas Hirstein, Jg. 1968, leitet die Wissenschaftsredaktion der "NZZ am Sonntag", in der der Beitrag zuerst erschienen ist

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Natur in Öl: Greenpeace-Aktivist beim Versuch, eine Krabbe aus dem verklebten Mississippi-Delta zu befreien. - Erinnert sich eigentlich noch jemand an die elf Todesopfer des Bohrinselunfalls?

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Von übertriebenen Ängsten und unzulässigen Vergleichen: Die Natur leidet, aber sie erholt sich meistens schneller als vermutet.

Auch bei dieser Ölkatastrophe ist es so wie immer: Wer die Zeitungen aufschlägt, bekommt das Gefühl, die Welt geht unter. Der Ölteppich im Golf von Mexiko hatte die amerikanische Küste noch gar nicht erreicht, als schon die ersten Untergangsszenarien die Runde machten. Erst zehn Tage nach der Explosion der "Deep Horizon" konnten sich die Fotografen auf das erste Opfer stürzen: ein unglücklicher Basstölpel mit verklebtem Gefieder. Dass der Unfall auf der Bohrinsel elf Menschen den Tod brachte, interessiert niemand. Es geht um die Umwelt.

Dabei zeigt die Erfahrung, dass die ökologischen Folgen von bisher jedem Ölunfall überschätzt wurden. Als 1978 der Tanker "Amoco Cadiz" vor der britischen Küste auf Grund lief, erklärte man einen Teil des Atlantiks für tot. Schon wenige Jahre später hatten sich die Ökosysteme erholt. Die noch größere Havarie der "Exxon Valdez" 1989 im Prinz-William-Sund bei Alaska führte ebenfalls nicht zu dauerhaften Schäden. Ein amerikanischer Bundesrichter hatte die Katastrophe damals mit der Hiroshima-Bombe verglichen.

Auch kriegsbedingte Ölkatastrophen hatten bisher keine Langzeitschäden zur Folge. Das gilt für den Zweiten Weltkrieg, als deutsche U-Boote Tankschiffe vor der US-Küste versenkten. Und es gilt für den Golfkrieg 1990/1991, als der Irak kuwaitische Ölanlagen und Tanker im Persischen Golf in die Luft sprengte. Saddam Husseins damaliger Befehl hatte die größte marine Ölpest der Geschichte zur Folge. Damals flossen 11 Millionen Barrel Öl ins Meer.

Die Umweltfolgen waren in all diesen Fällen ähnlich: Die Ölpest richtet kurzfristig große und teure Schäden an. Doch die Natur erholt sich schnell. Langfristig leiden die Fisch- und Vogelpopulationen nicht.

Man muss kein Prophet sein, um auch beim derzeitigen Unfall einen glimpflichen Verlauf vorherzusagen. Das zeigt die Erfahrung mit einer früheren, noch gravierenderen Katastrophe im Golf von Mexiko. 1979 havarierte dort die Bohrinsel "Ixtoc 1". 3,3 Millionen Barrel Rohöl strömten ins Meer. Bis heute ist der Ixtoc-Unfall die zweitgrößte Ölpest der Geschichte geblieben. Zum Vergleich: Mit den derzeit vor Louisiana ausströmenden Mengen würde es zwei Jahre dauern, um auf die gleiche Gesamtmenge Öl zu kommen. Für die mexikanische Ölgesellschaft Pemex war der Unfall ein finanzielles Desaster, für die Natur war er nach einem guten Jahr fast wieder vergessen. "Die Umwelt erholt sich, auch wenn es während der Ölpest nach dem Ende der Welt aussieht", sagte damals der Chemiker Edward Overton an einer Tagung der amerikanischen Chemiker-Gesellschaft. "Manche Menschen glauben, eine Ölpest schaffe eine tote Umwelt. Doch das ist nicht der Fall."

Die große Wassertiefe des derzeit undichten Bohrlochs könnte sich als Vorteil erweisen, vermutet Øistein Johansen. Der norwegische Wissenschafter hat vor zehn Jahren einen Bohrloch-Ausbruch in der Nordsee experimentell untersucht. Generell sei bei Unfällen in der Tiefsee mit einem dünneren Ölteppich zu rechnen als bei Unglücken an der Erdoberfläche wie zum Beispiel der Havarie eines Tankers. Das liegt daran, dass das aufsteigende Gas und Öl eine vertikale Wasserströmung nach oben in Gang setzt, die an der Oberfläche wie ein Schirm radial nach außen auffächert und den Ölteppich auseinanderzieht. Dünnere Filme werden von den Wellen schneller zerstört. Es bilden sich daher weniger zähe Emulsionen aus Wasser und Öl. Stattdessen dispergiert das Öl in kleine Tröpfchen, die von Bakterien abgebaut werden. Johansen vermutet, dass möglicherweise nur ein kleiner Teil des ausströmenden Öls eine Küste erreicht – eine Ansicht, die sich immerhin in den ersten Tagen nach dem Unfall bestätigt hat.

Unbestritten ist allerdings auch, dass das Bohren nach Öl in großer Wassertiefe eigene Risiken birgt – auch im Golf von Mexiko. An der Küste von Louisiana wurde 1947 die erste Offshore-Plattform errichtet, und noch immer ist das Randmeer des Atlantiks eine der ölreichsten Gegenden der Erde. Dass hier unter dem Meer Öl lagert, konnten schon die spanischen Eroberer im 16. Jahrhundert feststellen. Auf ihren Schiffsreisen entdeckten sie immer wieder Ölteppiche auf der Wasseroberfläche. Öl gelangt also auch durch natürliche Prozesse in den Golf, und dies seit Millionen von Jahren. Eine 2003 publizierte Studie schätzte die jährliche Menge auf 1 Million Barrel. Das wären mehr als 400.000 Liter pro Tag, und somit etwa die Hälfte des derzeit am beschädigten Bohrloch austretenden Öls. Die gleiche Studie – sie wurde von der amerikanischen Geologiebehörde und dem Mineralölkonzern Chevron finanziert – kommt zu dem Schluss, dass weltweit etwa die Hälfte des ins Meer gelangenden Öls natürlichen Ursprungs ist. Die andere Hälfte geht auf das Konto von Tankerunfällen, Schäden an Pipelines und Bohrinseln sowie anderen menschlichen Aktivitäten.

Die natürlichen Öllecks im Golf von Mexiko hängen mit der besonderen Geologie und Entstehungsgeschichte der Bucht zusammen. In der Jurazeit, vor 170 Millionen Jahren, war die Gegend eine flache See, die durch tektonische Bewegungen vom Ozean abgeschnitten wurde. Das warme Klima führte zum Verdunsten des Wassers. Zurück blieb eine bis zu acht Kilometer dicke Salzschicht. Als die Kontinentaldrift erneut einen Zugang zum Meer öffnete, versank die Salzschicht wieder im Wasser. Neue Sedimente verhinderten jedoch, dass sich das Salz auflöste.

Die Schicht sank unter der Last der Ablagerungen immer tiefer, sie verformte sich und stieg wegen ihrer geringeren Dichte an einigen Stellen nach oben – wie die Tropfen in einer Lavalampe. So bildeten sich Salzstöcke – oft mehrere hundert Meter hoch, an deren Rändern sich dann im Verlauf der Erdgeschichte das fossile Öl und Gas sammelte. Auch heute bewegt sich das fließfähige Salz unter dem Meeresboden und öffnet dabei immer wieder Spalten in der Sedimentschicht, durch die Öl und Gas nach oben strömen.

Für die Natur ist diese natürliche "Ölpest" jedoch kein Problem, denn sie verteilt sich über fast die gesamte Fläche des Golfs und über große Zeiträume. Sie sind daher nicht mit den ökologischen Folgen eines Unfalls vergleichbar. Im Gegenteil: Forscher haben in den letzten Jahren besondere Muscheln und Würmer auf dem Meeresboden entdeckt, die sich das in der Tiefe sprudelnde Erdöl zunutze machen. Sie beziehen daraus Energie und Nährstoffe. Die Natur überrascht eben immer wieder – in der Tiefe und an den Küsten, wo sie sich hoffentlich bald wieder erholt. (Andreas Hirstein, DER STANDARD Printausgabe 27.5.2010)