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Wegen ihres "arischen" Aussehens sollten tausende polnische Kinder zu "deutschbewussten Germanen" gemacht werden.

Foto: Archiv des Inst. des Nationalen Gedenkens Warschau

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Die Kinder wurden auf ihre "rassische Wertigkeit" überprüft, ihren Eltern weggenommen und brutalen Maßnahmen unterzogen.

Foto: Archiv des Inst. des Nationalen Gedenkens Warschau

In Heimen und bei Pflegeeltern sollten sie zu einer "deutschen Jugend" erzogen werden. Eine Grazer Historikerin hat ihre Schicksale aufgearbeitet.

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Anna Zakowska war acht Jahre alt, als man sie ihren Eltern weggenommen hat. Wie tausende andere Kinder aus dem besetzten Polen wurde sie von den Nationalsozialisten als "rassisch wertvoll" erachtet, in speziellen Heimen der NS-Ideologie entsprechend umerzogen und schließlich an eine "deutsche" Pflegefamilie vermittelt. Annas Mutter ließ das Mädchen kurz vor ihrer Verschleppung fotografieren und nähte ihr ein kleines Stoffstück mit ihren Personaldaten in das Mantelfutter ein. "Sie bat mich, den Mantel immer zu behalten, damit ich nicht vergesse, wer ich bin", erinnert sich Anna Jahrzehnte später.

Die Angst ihrer Mutter war begründet. "Das Mädchen wurde zunächst in ein 'Übergangsheim', dann in ein 'Assimilationsheim' in Polen gebracht, wo sie unter Einsatz brutaler Methoden Deutsch lernen musste", erzählt die Grazer Historikerin Ines Hopfer. Sie hat sich auf die Spur dieser verschleppten und ihrer Identität beraubten Kinder gemacht und damit ein Kapitel der sonst weitgehend aufgearbeiteten Geschichte des Dritten Reiches beleuchtet, dem sich die deutschsprachige Forschung bislang erst ansatzweise gewidmet hat.

Auf der Basis von persönlichen Interviews, Fragebögen, zeitgenössischen Verhörprotokollen und umfangreichem Archivmaterial entstand eine ebenso sorgfältig recherchierte wie berührende historische Arbeit, die mit Unterstützung des Wissenschaftsfonds FWF kürzlich in Buchform erschienen ist.

Im Herbst 1944 landete Anna Zakowska schließlich im "Lebensborn"-Kinderheim "Alpenland" in Oberweis nahe Gmunden. Hier ging es darum, die Identität der polnischen Buben und Mädchen endgültig auszulöschen, sie nationalsozialistisch zu indoktrinieren und an Pflegefamilien zu vermitteln. Aus Anna Zakowska wurde Anna Zachert. Bis Kriegsende hat man etwa 250 polnische Kinder zwischen vier und 15 Jahren in diesem Heim untergebracht und "behandelt".

Körperliche Züchtigung

"Wir machen aus euch deutsche Jugend!", ließ man sie bei ihrer Ankunft wissen. "Da war es noch schlimmer als in den polnischen Heimen: größere Disziplin, nur deutsche Sprache, Hunger und körperliche Züchtigung für jede kleine Verfehlung", berichtet die mittlerweile 74-jährige Anna. "An Einsamkeit und Hunger war ich gewöhnt, aber ich hatte sehr große Angst vor dem Einsperren im Keller - Angst vor der Dunkelheit habe ich bis heute -, vor den körperlichen Züchtigungen und vor allem vor den Gesichtsschlägen."

Einer Anordnung zufolge sollten die Kinder bevorzugt an Familien von SS-Angehörigen vermittelt werden. "Doch aus den Unterlagen geht hervor, dass die politische Gesinnung nicht ausschlaggebend war", fand Ines Hopfer heraus. "Vermutlich war man froh, wenn sich überhaupt noch Pflegestellen meldeten." Anna hatte mit ihrer Gmundener Pflegefamilie jedenfalls Glück. Sie war froh, nicht mehr im Heim leben zu müssen, hatte ihre Muttersprache bereits vergessen und fand neue Freundinnen.

Anderen Kindern ging es schlechter: Viele wurden von ihren Pflegefamilien als Arbeitskräfte ausgenutzt und misshandelt. "Am Telefon wurde ich manchmal sogar beschimpft, wenn ich bei ehemaligen Pflegefamilien um Auskünfte bat", sagt die Historikerin. "Im Nachhinein stellte sich meist heraus, dass es den polnischen Kindern in diesen Familien besonders schlecht gegangen ist." Und was passierte mit den Kindern nach Kriegsende? "Das Polnische Rote Kreuz und eine spezielle Kommission begannen sehr rasch mit der Suche", weiß Hopfer. Viele der so aufgefundenen Kinder waren froh, wieder zu ihrer eigentlichen Familie zurück zu können. Es gab aber auch etliche, die eine Rückführung ablehnten - vor allem jene, die keine Angehörigen mehr in Polen hatten. Schwierig aber war die Rückkehr in die Heimat für alle. "Ich verstand kein einziges Wort auf Polnisch. (...) Wieder mit Tränen, Verzweiflung und Schreien wurde ich aus dem Haus genommen. Ein weiteres Mal verlor ich meine Identität - ich war fast neun Jahre alt und wusste wieder nicht, wer ich bin", erinnert sich Anna.

Viele Folgen, milde Strafen

Dazu kamen die Vorurteile der polnischen Nachkriegsgesellschaft gegen alles, was an Deutschland erinnerte. Die kleinen Heimkehrer wurden als "Hitler-Buben und -Mädchen" beschimpft und oft zu Außenseitern.

Rund 20.000 polnische Kinder wurden ins "Altreich" und die "Ostmark" verschleppt, schätzt Ines Hopfer. "Wir sind fast alle daran zerbrochen", ist Barbara Paciorkiewicz, die Vorsitzende des mittlerweile aufgelösten Vereins der "eingedeutschten" Kinder überzeugt. "Die meisten von uns haben psychische Erkrankungen - Anpassungsstörungen, Selbstzweifel, Depressionen."

Anna Zakowska hatte übrigens auch nach der Rückkehr in ihre Heimat Glück: Sie wurde geliebt und gefördert, studierte Jus und arbeitete bei Gericht. Dennoch: "Über viele Jahre hinweg wachte ich schreiend in der Nacht auf, wollte nicht alleine bleiben, mir fehlte das Gefühl der Sicherheit." Mit 48 Jahren erlitt sie einen Herzinfarkt und musste ihre Arbeit aufgeben.

Die Täter der "Eindeutschungsaktion", all die Organisatoren und Betreuer, kamen weitgehend ungeschoren davon. "Es gab nur 14 Angeklagte, und davon musste sich lediglich die Hälfte strafrechtlich wegen 'Kindesentführung' vor Gericht verantworten", sagt Ines Hopfer. Die Strafen waren vergleichsweise mild, und das Personal der vielen beteiligten Kinderheime in Polen, im "Altreich" und der "Ostmark" wurde überhaupt nicht belangt. (Doris Griesser/DER STANDARD, Printausgabe, 26.05.2010)