Zur Person:
Milena Marković, 1974 in Belgrad geboren, gastierte mit ihren Stücken des Öfteren in Europa, darunter beim Steirischen Herbst und bei Biennalen.

Foto: Colakovic

Standard: "Suma blista" ist ein widersprüchliches Stück: Die Figuren verlieren das Vertrauen in sich und in die Zukunft.

Marković: Das Stück ist, wenn Sie mich fragen, expressionistisch. Die Sprache ist vollkommen künstlich, die Figuren sprechen in Versen. Üblicherweise arbeite ich immer in freien Versen - aber die Figuren sind scharf umrissen, haben eine Biografie und ein Geschlecht. Wie in jedem expressionistischen Stück kann man die Vorlage realistisch behandeln - oder eben symbolistisch. Das Stück spielt entweder an einem Nicht-Ort, an dem die Figuren leiden. Man kann sie aber auch als Archetypen behandeln, als serbische Märchenfiguren. Dann entstammen sie der Balkan-Mythologie und hausen im Wald.

Standard: Wer sind die Figuren?

Marković: Leute, die ihr Leben im Ausnahmezustand verbringen. Sie sind einfach substanzieller als Alltagstypen. Als Künstlerin fühle ich mich Extremen verpflichtet. Im zweiten Bild zeige ich Huren, die in den Westen verschickt werden: Es handelt sich um Märchenerzählerinnen. Ich habe in meinem Leben auch schäbige Jobs gehabt - ich kenne das Thema. In der Tragödie sollte nur keine Platz für eine moralische Botschaft sein. Ich glaube nicht an das gut austarierte, "perfekt gebaute" Stück. Ich liebe Tragödien. Sie bilden die Arena für gebeutelte Menschen. Ich liebe die Umschlagpunkte, an denen Figuren sich zu verändern beginnen. Vielleicht handelt es sich bei Suma blista um ein Märchen. Vielleicht tun die Figuren auch ewig so weiter, saufen und singen - wer kann das wissen?

Standard: Wie geht das serbische Theatersystem mit freien Autorinnen wie Ihnen um? Man hört, die Schauspieler seien hier die Stars.

Marković: Die Schauspieler sind Stars, und auch wieder nicht. Sie haben kein Geld. Also müssen auch die angesehensten Charakterschauspieler in furchtbaren Telenovelas spielen. Die Konsumismusglocke hängt über dem ganzen Land. Schauspieler haben Ansprüche, sie besitzen Häuser und Autos, die sie erhalten müssen. Es ist leicht, über ein Wertesystem zu sprechen, wenn es einem selbst an nichts fehlt.

Standard: Wie würden Sie die Stimmung in der Gesellschaft beschreiben?

Marković: In der Gesellschaft herrschen Frustration und Konfusion. Die Menschen fühlen sich wertlos. Die Zukunftsperspektive? Ich kann Ihnen nur Beobachtungen mitteilen: Die polnischen Arbeiter, die hier gern gesehene Gäste waren, gehen in ihre Heimat zurück, weil sie es dort besser haben. Als Künstler, der in Europa anerkannt wird, ist das alles prächtig. Für die arbeitenden Massen sieht die Sache anders aus.

Standard: Auf welche Weise wirkt die Erinnerung an die Nato-Intervention nach?

Marković: Meine Ansichten haben sich dadurch nicht geändert. Ich bin Kommunistin. Ich habe nicht diesen Masochismus, mich zu beknirschen - die Sachlage war nicht so simpel, wie die offizielle Lesart es nahelegt. Der Krieg war nach meiner Überzeugung ein Bürgerkrieg, und die Serben waren nicht die Okkupanten. Es gibt Völker mit guten Perspektiven: Slowenien, das sich immer als Teil des Westens begriffen hat; Kroatien, das seinen nationalen Traum lebt. Länder wie Serbien haben keine so gute Perspektive. Was soll aus Bosnien werden? Serbien kann allein durchhalten. Was aber machen die marginalen Länder?

(Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 26.05.2010)