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"Es macht sich langsam die Erkenntnis breit, dass man fachspezifischer entscheiden muss", konstatiert Medienpsychologin Gabi Reinmann über den Bologna-Prozess. Im Interview mit derStandard.at erklärt sie, warum man mit Studienwechsel kulanter umgehen sollte und Professoren bei der Umsetzung von Bologna vieles selbst in der Hand hätten.

derStandard.at: Die Bologna-Reform ist im vergangenen halben Jahr wieder in das Blickfeld der Öffentlichkeit gerückt. Hauptsächlich durch die Kritik der Studierenden, aber selbst bei der Bologna-Konferenz wurden Fehlentwicklungen konstatiert. Ist Bologna selbst das Problem oder nur die Umsetzung?

Reinmann: Es ist immer ein Problem, wenn man viele Länder unter einen Hut bringen will und etwas Einheitliches durchsetzen möchte. Insofern stand Bologna in den Augen vieler Professoren von Anfang an unter einem schlechten Stern, weil bei ihnen vor allem angekommen ist, dass man jetzt standardisiert und vereinheitlicht wird. Das hat Einfluss auf die Umsetzung und auf die Akzeptanz, ruft jedoch im Gegenzug hervor, dass von oben mehr Druck gemacht und vorgeschrieben wird, als vielleicht in der ursprünglichen Bologna-Idee intendiert gewesen ist.

Im Jahr 1999 oder 2000 waren viele Dinge noch nicht festgeschrieben oder von Akkreditierungsagenturen vorgegeben. Wer bei der Umstellung also früh dran war, hat wahrscheinlich auch noch relativ flexible Studiengänge eingerichtet, im Gegensatz zu den vergangenen Jahren. Viele Vorgaben wurde aber mittlerweile schon wieder zurückgenommen – steht doch jetzt eine "Reform der Reform" im Vordergrund. Es heißt: macht die Module flexibler, weniger Anwesenheitspflicht und weniger Prüfungen festschreiben. Jetzt kommt wieder die Rolle rückwärts.

derStandard.at: Wer trägt die Verantwortung für die schlechte Umsetzung?

Reinmann: Die Frage ist zwar berechtigt, aber auch ein Grundübel, weil man sich den Schwarzen Peter untereinander zuschiebt. Bildungspolitisch gibt es wahrscheinlich zu wenig Kenntnis über die Hochschul-Situation vor Ort. Seit den 70ern oder 80ern gibt es schlechte Betreuungsverhältnisse, vor allem in den sozialwissenschaftlichen und geisteswissenschaftlichen Fächern. Die Reformen haben das noch verstärkt.

Sicher tragen auch Lehrende selber einen Teil der Schuld, denn wenn man sich an Fakultäten schneller geeinigt hätte, was man mitträgt und was nicht, hätte man die Studiengänge selbstbewusster gestalten können. So, dass sie zwar Bologna-konform sind, aber auch die eigenen Vorstellungen tragen. Da hat man sicher an vielen Stellen schon zu früh aufgegeben, weil man Angst hatte, dass etwas nicht durchgeht. Das hängt auch mit den Unileitungen zusammen, die es sich meistens nicht leisten können, dass eine Akkreditierung schiefläuft, und deshalb auch eher ökonomisch und rechtlich als inhaltlich an die Sache herangehen.

derStandard.at: Liegen im Bologna-Gedanken Sparmaßnahmen und der Zwang zu Effizienz begründet? Steht hinter der Bologna-Reform das Interesse der Wirtschaft möglichst brauchbare Abgänger zu erhalten – wie immer wieder behauptet wird?

Reinmann: Die Tendenz zu einer subtilen Ökonomisierung ist in vielen gesellschaftlichen Bereichen festzustellen. Es gibt zum Beispiel eine enorme Beschleunigung in der Schule und auch auf Unis versucht man, immer schneller fertig zu werden. Ich habe mich oft gefragt, wie wichtig es wirklich ist, ob einer 23, 24 oder 27 ist, wenn er in den Job einsteigt.

Schlimmer noch finde ich in diesem Zusammenhang aber die Übertragung von betriebswirtschaftlichen Strategien in das Management von Hochschulen. Das hat auch auf Lehre und Forschung gravierende Auswirkungen. Hochschulen werden zu Organisationen gemacht, von deren Mitgliedern erwartet wird, dass sie agieren, als wären sie in einem Unternehmen. Das ist ziemlich kontraproduktiv im Bezug auf die Ziele von Hochschulbildung.

derStandard.at: Unter anderem wird im Zusammenhang mit Bologna eine "Verschulung" der Studiengänge kritisiert, die diese beispielsweise von Fachhochschulen nicht mehr unterscheidbar macht. Ein berechtigter Kritikpunkt?

Reinmann: Das ist eine Ausrede. Diesen Punkt haben die Professoren selbst in der Hand. Die Lehre ist frei. Es hat sich vielleicht die Haltung der Studierenden verändert, die es erwarten, dass sie stärker an die Hand genommen werden. Zu offene oder ungeplante Lehrsituationen haben ja früher oft auch bedeutet, dass sich Studenten überhaupt nicht auskannten, was sie zu tun haben. Dahin will ja auch keiner zurück.

derStandard.at: Allerdings wird doch die verstärkte Anwesenheitspflicht von Studierenden kritisiert, die es immer schwieriger machen würde, das Studium frei zu gestalten.

Reinmann: Ich führe nie Anwesenheitslisten, weil Studierende erwachsene Personen sind, die selber entscheiden können, ob sie für die nachfolgende Prüfung und ihren Kompetenzerwerb anwesend sein müssen oder nicht. Wenn es natürlich Gruppenarbeiten gibt, versteht es sich von selbst, allein schon aus Rücksicht untereinander, dass man sich zu einer Anwesenheit verpflichtet. Es steht aber nirgendwo geschrieben, dass man aufgrund der Bologna-Reform permanent die Studierenden kontrollieren muss.

derStandard.at: Gibt es eine zu starke Einengung der Wahlmöglichkeiten und Freiheiten während eines Studiums, oder ist das Gegenteil der Fall?

Reinmann: Meine aktuelle Erfahrung ist, dass viele Studierende mit dem Selbststudiumsanteil – der ja auch mitgerechnet wird – große Probleme haben und nicht so recht wissen, wie sie das angehen sollen. Studierbarkeit wurde bisher immer an den Angeboten festgemacht – also ob sie zeitlich und inhaltlich zusammenpassen. Ich würde die Frage der Studierbarkeit zusätzlich aus einem anderen Blickpunkt stellen, nämlich: wie gut bereiten wir die Studierenden in ihren überfachlichen Kompetenzen vor mit unseren Angeboten umzugehen? Die Studierenden können das aufgrund ihrer schulischen Vorerfahrung oft nicht. Viele Fragen bleiben offen: wozu ist eine Vorlesung da? Wie höre ich richtig zu, wie mach ich mir Notizen? Wie lerne ich vor und nach einer Veranstaltung? Das sind Dinge, die schieben wir als Lehrende gern auf Tutoren ab. Dann führen eben die Einäugigen die Blinden.

derStandard.at: Die Frage der Studienentscheidung wird immer früher gestellt.

Reinmann: Menschen sind verschieden. Es gibt viele, die für eine Entscheidung länger brauchen. Ich halte nicht viel davon, die Jugendlichen immer früher damit zu konfrontieren, welche Ziele und Interessen sie denn verfolgen. Ich glaube auch, dass unsere Gesellschaft volkswirtschaftlich gesehen nicht den Bach runter gehen würde, wenn man im ersten Studienjahr bei einem Studienwechsel kulanter wäre oder so etwas sogar einbauen würde, quasi als Orientierungsmaßnahme.

derStandard.at: Der Bachelor wird einstweilen von der Wirtschaft noch nicht als vollwertiger Universitätsabschluss anerkannt. Das widerspricht doch dem eigentlichen Interesse, dass Hochschüler möglichst schnell und effizient ausgebildet werden sollen, um als Arbeitskraft zur Verfügung zu stehen. Verstehen Sie das?

Reinmann: Wenn es so ist, dass die Wirtschaft hier skeptisch ist, finde ich das ärgerlich, denn immerhin waren es ja Stimmen aus diesen Bereichen, die die lange Studienzeiten bemängelt und gesagt haben, dass man früher ins Berufsleben gehen soll. Offensichtlich wissen da manche selbst nicht so ganz, was sie wollen.

derStandard.at: Für manche Studienrichtungen wie Jus, Kunst oder Lehramt macht, so scheint es, die Einführung eines Bachelors keinen Sinn.

Reinmann: Viele haben sich dem ja auch widersetzt. In Deutschland heißt es mittlerweile, dass auch vierjährige Bachelor zulässig sind. Da macht sich langsam die Erkenntnis breit, dass man fachspezifischer entscheiden muss. Das war sicherlich auch den Studentenprotesten zu verdanken, und der Öffentlichkeit. (Teresa Eder/derStandard.at, 25.05.2010)