Karl Valentin (1882-1948): Über den Rahmen des Üblichen drängt es Karl Valentin hinaus, im Rahmen des Gewöhnlichen stiftet er Verwirrung ...

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zu friedrich achleitners "der springende punkt" - von günter traxler

Foto: Landesarchiv Baden-Württemberg, Staatsarchiv Freiburg

Das Atelier von Friedrich Achleitner vermittelt die produktive Bequemlichkeit eines rastlos Kontemplativen. Es strahlt die entspannte, spannende Stimmung eines gewitzten Geistes aus, der an intellektueller Verve und neugieriger Bodenhaftung nichts eingebüßt hat. Auf einer großen Platte sind Pläne mit kleinen farbigen Flächen ausgebreitet, an den Wänden hängt ein Bilderpanoptikum. Broschüren, Skizzen, Blätter, Bücher liegen, stehen dort und da, auch auf dem Tischchen der Sitzformation, wo Kaffee oder hochprozentiger Geist Gespräche begleitet. Und oder umgekehrt.

Rechts über dem Computer sticht ein Foto schwarz-weiß ins Auge: Dunkel ein Hut (eine Melone), eine Mantelschulter, hell eine Hand, ein linkes Ohr und in der Mitte, wo das Gesicht dahinter steckt, der Boden eines Krugs. Ein Porträt, das das vorgeblich Wesentliche verweigert. An Stelle der Wesenszüge scheinbar oder anscheinend der tiefe Zug aus der Maß Bier. Das Bild stammt aus einer Zeit, in der das Deutsche gewaltig forsch in die Welt schaute; um 1940 hat es Karl Wolter geschossen. Es gibt dazu ein Gegenbild, das nicht in Friedrich Achleitners Atelier hängt: Offenbar derselbe Mann, aber von hinten, die Melone und der Mantel mit dem hochgeschlagenen Kragen, das Haar sieht man und die Ohren. Der Mensch wendet sich ab. Der Mensch zeigt die dunkle Schulter. Dahinter steckt einer der genialsten deutschsprachigen Komiker, eine ganz merkwürdige Mischung von Volkssänger und Avantgardist, der sowohl konservativ Ansichten von Alt-München sammelte als auch das neue Medium Film begierig aufnahm, der Traditionen der populären Lach-Unterhaltung fortführte und zugleich Absurdes Theater vor Beckett oder Ionesco schuf.

Karl Valentin (1882-1948) kam aus der Münchner Vorstadt. Sargtischler habe er gelernt, flunkerte er, der sein skurriles Theater gern in sein Leben hineinreichen ließ. Und/oder umgekehrt. Stücke seines Panoptikums, das er von 1934 bis 1940 betrieb und das Analogien zur "Ersten Internationalen Dada-Messe" (1920) aufwies, sind heute im Isartorturm zu sehen: der Stein, auf dem Mariechen saß; Harfe und Kamm der Loreley; das Ohr eines Kurzsichtigen ...

Auf Fotos gibt er allerlei Figuren, den schneidigen, rachitischen Sturzflieger im Zuschauerraum und eine mager-runzlige Loreley auf dem Stockerl, einen Kaiser Wilhelm hinter grotesker Gasmaske und einen Radfahrer, der kaum Wind verdrängt. Eine dürre Gestalt ist er, die rundliche Liesl Karlstadt hat er sich zur Partnerin (meist in Hosenrollen) genommen, auf seine Bühne bringt er eine ausgesucht seltsame Komparserie.

In der Bürgerwehr, die den Raubrittern vor München entgegentreten soll, lehnt ein Elendslanger neben einem Kleingestockerlten. Und was macht Karl Valentin auf der Wacht? Er schläft, dann grantelt er. Die Karlstadt als Ablöse hat ihn geweckt. So schön habe er geträumt, gerade sei er dabei gewesen, einen Wurm, dreißig Zentimeter gelb, zu verschlucken. - Kein schöner Traum! "Ja, für a Entn scho" . Mögen die Raubritter in Berg am Laim stehen, ob es einer Ente träumt und aus welcher Perspektive der Träumende empfindet, ist jetzt die existenzielle Frage.

Über den Rahmen des Üblichen drängt es Karl Valentin hinaus, im Rahmen des Gewöhnlichen stiftet er Verwirrung. Weihnachten am 24. Juli: "Da geht nacha mei Abreißkalender nach" . Im Orchester: Geben S' den Ton an! "L, l, l" . Dabei will er alles genau wissen. Das Selbst und das Verständliche einmal hinter den Bierkrug stecken.

Lachen sieht man den Komiker ohnehin auf keinem Foto, weder auf dem Theater noch im Leben. Da griffen Ängste nach dem Hypochonder. Zwar hat er in Zürich und Wien gespielt, gelegentlich jedoch soll er auf der Fahrt zu einer Berliner Aufführung in Augsburg panisch aus dem Zug geflohen sein. Zwei Zugführer werden nicht auf einmal vom Schlag getroffen, erklärt man ihm. "Warum nicht?" Einfach ist die so befragte Welt keineswegs. In einer Szene bedeutet man ihm, er sei unschuldig. "Warum?" Wer ständig fragend bohrt, will präzisieren: Auf einer "ausländischen Bananenschale" sei er ausgerutscht, sagt er und erntet - dank der Übercodierung - unser Gelächter "in baldiger Bälde" .

Komische Sturzflüge

Beharrlichkeit hilft auch nicht weiter. "Käfig mit Vogel 13 Mark" , wiederholt der "Ausgeher von der Vogelhandlung" , als die Kundin ihren Hansi nicht vorfindet. "Frau, der Vogel muaß drin sein" , da er auf der Rechnung steht, "Käfig mit Vogel" . Immerhin lassen sich Floskeln praktisch gebrauchen, da kann man bei "Familieneinmischungsdifferenzen" seinen Sohn anherrschen: "Du bleibst da, und zwar sofort!"

Bertolt Brecht, der mit Karl Valentin auch auf dem Oktoberfest spielte und ihm einen entscheidenden Hinweis für den Verfremdungseffekt verdankte, bezeichnet ihn als eine der "eindringlichsten geistigen Figuren der Zeit" . Weil der große Sprachkünstler seine Kunst im komischen Fach betrieb, wollen gängige Literaturgeschichten wenig davon wissen. Die Geringschätzung einer "Unterhaltung" verweist die komische Figur von der Bühne des Bedeutsamen; einem Publikumserfolg misstraut der eifersüchtige Ästhet, der sonst das Wort "Volk" politisch-moralisch gern im Munde führt. Dabei: "Das Publikum schrie, brüllte, tobte vor Lachen, fiel von den Stühlen, japsend" , überliefert Lion Feuchtwanger die Wirkung des Karl Valentin.

Aufgeführt wurden Tücke des Lebens, hartnäckiges Dagegenhalten und Hintergehen des Gewohnten. Einfach das Gesicht fürs Foto hinhalten, das geht nicht. Das Einfache ist bestenfalls Zufall. Gerade als man in der Bahnhofsstraße von einem Radfahrer gesprochen habe, sei einer dahergekommen, "Zufall" . Da komme doch dauernd einer, weiß Liesl Karlstadt als Kapellmeister gegen den arbeitsunwilligen Geiger, Tausende fahren da täglich. "Wir haben aber nur über einen gesprochen." - Ja, wenn sie über einen Flieger gesprochen hätten... "Ham ma net" . Das weiß ich ja, ruft es ihm entgegen. "Wieso?", ruft er zurück, und morgen werde er über einen Flieger reden, wehe, wenn dann ein Radfahrer komme. Und als er den Zufall weiterhin in Abrede gestellt sieht: "Sie ham a andere Weltanschauung!"

Von "brausenden Lachsalven" erzählt Hermann Hesse, von einem Saal voll Lachen Kurt Tucholsky. Bei diesen komischen Sturzflügen im Zuschauerraum saßen, voll Vergnügen und Kunstverständnis für die Hintersinnigkeit, die Brüder Thomas und Heinrich Mann, Carl Zuckmayer, Franz Blei, Alfred Polgar ... Er habe Karl Valentin in München auf der Bühne gesehen, schreibt Samuel Beckett, es müsse 1937 gewesen sein, und er habe "recht traurig viel gelacht" . Das "Immer denkt's in mir" des Infragestellungskünstlers gab ihnen allen zu denken, die bohrenden Ungewissheiten ließen sie ebenso in sich hineinlachen und aus sich herausgehen wie die vertrackten Gedankengänge. Die tiefen Gruben der Sprache, in die seine Figuren und das Publikum fallen, seine Sprachzerlegungen faszinierten. Im berühmten Dialog Semmelknödel:

-Aber Semmelknödel sind Semmelknödel.
-deln!
-deln?
-deln!
-Was deln?
-Semmelnknödeln heißt's." Welche Knödel auch immer: "am wichtigsten ist das N in der Mittn".

Personifiziertes Fragezeichen


Seine Figur, der Stadtkämmerer, präsentiert Vorschläge für den kollisionslosen Verkehr: Am Montag sollen nur die Fußgänger auf die Straße dürfen, am Dienstag die Radfahrer, am Mittwoch die Autos, am Donnerstag die Feuerwehr ... oder im Jänner die Fußgänger und so weiter, oder "jahreweise" , bis "1940 die Radfahrer" und, bezeichnend, "1942 die Feuerwehr" . Ein andermal Valentin als Radler, angehalten von einem Polizisten. Bei der Identifizierung klemmt's. Wie er heiße? "Wrdlbrmpfd" . Wadlstrumpf? "Wrdlbrmpfd!" Wie man das schreibe? "So wie man's spricht." Einteilungswut und Ich-Bezeugung fallen aus dem Rahmen. Dagegen mögen einem heute die Sätze einer Rede eigentümlich bekannt vorkommen: "Wenn die Besonnenheit uns von unseren Sorgen, deren wenige ein verblendendes Spiel in uns gesetzt zum Zwecke des Mittels, einen wie bei jedem, wir können nicht das gute Gewissen mit derselben Resignation verknüpfen, die unserem Standpunkt von vorneherein gegenüberstand." So weiter bis zum Schlusssatz: "Und wenn es am Sonntag wider alles Erwarten wirklich schlechtes Wetter ist, müssen wir unser Stiftungsfest auf den nächsten Sonntag verschieben."

Ernst Jandl hat ihn verehrt, Otto Grünmandl hat von ihm gelernt. Gert Jonke sagte zwei Monate vor seinem Tod, er könne viel von Karl Valentin auswendig. Der Einfluss lässt sich im Werk ausmachen und war im Gespräch zu hören. Nachdem Jonke aufgezählt hatte, in welchen Städten er gelebt habe, kam auf die Frage "Und in Kärnten dann nicht mehr?" zunächst kategorisch sein "Nein", dann, nach einer Schrecksekunde: "Doch, in Klagenfurt, zehn Jahre irrtümlich."

Karl Valentins Gestalt erschien zeitgenössischen Bewunderern als personifiziertes Fragezeichen, in einem Fragezeichen steht seine Denkmalfigur auf dem Münchner Viktualienmarkt. "ein fragezeichen sollte sich nicht in ein rufzeichen verlieben", beginnt eine der Kurzerzählungen in Friedrich Achleitners Band einschlafgeschichten. Und eine andere: "gell, sagte er, gell, es gibt leute, die sagen nach jedem satz gell". Eine "Eptimedie" , nein "Deptimechi" sei dieses "Gell-Sagen" , heißt es in Valentins Dialog Üble Angewohnheiten.

Wie sehr sie in der Wiener Gruppe diesen komischen Welt- und Wortskeptiker hochgehalten haben, erzählt Friedrich Achleitner, dessen Kurzprosa ebenso von anhaltender Wertschätzung zeugt wie das Foto im Atelier. Einen dialektalen Antrieb des Antreibens rhythmisierte Achleitner in einem frühen Gedicht: "ge weida / ge weida / ge weida // ge ge weida / ge ge weida / ge ge weida // [...] // kim".

Karl Valentin hat 1937 vor der Szene Der Notenwart unter dem Titel "Thema" den Kürzestdialog "Wo bleibst denn? - Kumm scha" aufgenommen, in überdrehter Geschwindigkeit, zunächst unverständlich als hohes Zirpen, dann immer langsamer und schließlich im tiefen Ton: "Wo bleibst denn? - Bin scha do."

Also "lasset die Klänge klingen!", wie der Musiker Valentin in der "Orchesterprobe" sagt. Krug vors Gesicht und Prost! (Klaus Zeyringer, ALBUM - DER STANDARD/Printausgabe, 22./23.05.2010)