Graz - Was geschah wirklich in jener Nacht im November 2003? Hatte sich der junge türkische Flüchtling von einem Pensionisten sexuell bedroht gefühlt und ihn im Affekt und in blinder Wut mit 80 Messerstichen getötet?

Oder kommt jetzt doch bei der laufenden Wiederaufnahme-Verhandlung in Graz die Wahrheit ans Licht? Jene Wahrheit des Flüchtlings, dass nämlich dessen väterlicher Freund, ein Grazer Gymnasialprofessor, den alten Mann in einem Akt religiösen Wahns mit "unglaublicher Grausamkeit" (Staatsanwältin Barbara Schwarz) getötet und die Schuld anschließend dem jungen Flüchtling - den er aufopfernd betreut und finanziell unterstützte - in die Schuhe geschoben habe.

Selbstmord

Rein juridisch ist der Fall bis jetzt ja geklärt. Der junge Türke wurde rechtskräftig zu 20 Jahren Haft verurteilt. Er widerrief aber sein Geständnis und gab eben 2009 den AHS-Lehrer als Täter an, der seither in U-Haft sitzt. Er habe die Schuld auf sich genommen, auch weil er dafür in Summe 300.000 Euro bekomme, sagte der Schützling des Professors. Wie glaubwürdig sind aber diese Aussagen des Verurteilten, der sich im Vorfeld des Prozesses in der Haft das Leben nahm?

Gerichtspsychiater Reinhard Haller sagte am Dienstag vor Gericht, der verstorbene Häftling habe im Gefängnis eine Psychose mit Verfolgungsfantasien entwickelt. Diese seien aber medikamentös mit "hochwirksamen" Psychopharmaka erfolgreich behandelt worden. Zum Zeitpunkt, als er die Wiederaufnahme des alten Prozesses verlangte, seien jedenfalls keine psychischen Erkrankungen erkennbar gewesen.

"Schweigegeld"

Zahlreiche Zeugen aus der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas, deren Mitglied der AHS-Lehrer ist, zeichneten vor Gericht das Bild eines friedliebenden Wohltäters. Bestätigend sagten etliche Zeuginnen und Zeugen aus der türkischen Zuwandererszene, für die der Pädagoge Bibelstunden hielt, der AHS-Professor habe sie all die Jahre massiv unterstützt. Tausende Euros habe er für den Lebensunterhalt mehrerer Familien gespendet. Der Bruder und Onkel des verstorbenen Häftlings wurden zum Prozess aus der Türkei eingeflogen. Der Bruder sagte, dass ihm der Verurteilte 2009 mitgeteilt habe, dass der AHS Lehrer der Täter sei - und in der Folge 300.000 Euro als Schweigegeld überwiesen würden. Der Onkel wiederum sprach von Notwehr, sein Neffe habe sich gewehrt, um nicht selbst getötet zu werden. (Walter Müller, DER STANDARD Printausgabe, 20.5.2010)