Europa als Kampfplatz der Ideen: Jean-Luc Godards jüngste Arbeit "Film Socialisme" wurde in Cannes uraufgeführt, er selbst blieb dem Trubel fern, also in der Schweiz.

Foto:Filmfestival Cannes

Abbas Kiarostami schickt in "Certified Copy" Juliette Binoche auf Reisen.

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"Entschuldigen Sie, geht es auf diesem Weg zur Cotê d'Azur?" , ruft jemand auf Österreichisch aus dem Off. Das Mädchen an der Tankstelle antwortet auf Französisch: "Fallt doch in ein anderes Land ein!" Das Lama daneben schaut nur verdutzt. Jean-Luc Godard hat in Film Socialisme, der in Cannes in der Nebenschiene Un Certain Regard seine Uraufführung erlebte, auch den einen oder anderen Witz über das europäische Miteinander eingebaut. Den Weg an die Croisette hat er selbst nicht gefunden, er blieb lieber zu Hause in der Schweiz. In einem Interview mit Daniel Cohn-Bendit spricht er davon, dass er neue Distributionswege erwägen würde. Nicht er, sondern die Produzenten hätten den Film nach Cannes geschafft.

Flexibler Raum

Film Socialisme ist ein dichter Essay, in dem Töne, Bilder und Sprechakte ständig in Opposition zueinander geraten. Mehr noch als in seinen letzten Arbeiten erforscht Godard hier semantische Sinneinheiten. Der erste Teil des Films hat ein Kreuzfahrtschiff am Mittelmeer als Schauplatz, einen anderen, flexiblen Raum, in dem neue Arten von Übergängen möglich werden. Patti Smith spielt manchmal Gitarre, der Philosoph Alain Badiou ist auch an Bord, und immer wieder fällt der Blick auf das tosende Meer.

Godard erschafft hier eines seiner mit zahlreichen Zitaten angereicherten Filmrätsel, dessen Dechiffrierung das babylonische Sprachengewirr zusätzlich erschwert. Die Untertitel sind konsequent kryptisch: Höchstens drei Wörter, dazwischen viel Luft. Wenn man sich ein wenig von dem Bildersog verführen lässt, kann man immer wieder erhellende Zusammenhänge entdecken.

Die Stationen der Reise - Neapel, Barcelona und Kairo gehören dazu - veranlassen zu schlaglichtartigen Rückblicken auf die europäische Geschichte und ihre Verwerfungen. Palästina taucht auf, gleich danach warnt ein Insert "Access denied" . Das Gefälle zwischen Okzident und Orient, der Furor vergangener Revolutionen, die Wut, die am Anfang neuer Aufstände steht: Godards berühmtes Diktum, es gelte keine politischen Filme, sondern Filme politisch zu machen, wird hier von ihm in der Weise erfüllt, dass er ständig neue Anschlüsse entstehen lässt.

Gleicht Europa bei Godard einem Kampfplatz der Ideen, so ist der Kontinent bei Abbas Kiarostami ein toskanisches Dorf, das von äußeren Realitäten entrückt und abgeschirmt erscheint. Der iranische Regisseur entwirft in seiner ersten europäischen Produktion ein Planspiel um ein Pärchen, das vom französischen Star Juliette Binoche und dem britischen Opernsänger William Shimell gespielt wird. Sie ist eine Galeristin, er ein Kunsthistoriker, der ein Buch über Originale und Kopien in der Kunst geschrieben hat.

In einer kunstvollen Beiläufigkeit, die Kiarostami wie kaum ein anderer beherrscht, brechen die beiden zu einem Ausflug auf und pflegen ein wenig zu angestrengt Konversation. Interessant wird Certified Copy erst durch eine Drehung, welche die davor nur in der Theorie gestellte Frage der Repräsentation direkt auf den Film anwendet: Das Paar beginnt so zu agieren, als wäre es schon seit 15 Jahren vereint. Auf diese Weise wird der Raum doppelt imaginär - eine Bühne für Beziehungsmuster, die echte Wirkungen zeitigt. (Dominik Kamalzadeh aus Cannes/DER STANDARD, Printausgabe, 19. 5. 2010)