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"Geheimniskrämerei" bei Studien kann laut einer Studie Patienten gefährden

Foto: APA/Jens Büttner

Die Geschichte der Geburtszange ist eines der ältesten dokumentierten Beispiele dafür, welche Folgen Geheimhaltung in der Medizin haben kann, darauf und auf andere "Geheimniskrämereien" machte das deutsche Institut für Qualität und Wirtschaftlichkeit im Gesundheitswesen (IQWiG) im Rahmen einer Literaturstudie aufmerksam.  Niemand wisse, wie vielen Müttern und Kindern die Geburtszange bereits das Leben gerettet hat. Das Instrument gehöre seit etwa 250 Jahren zur Grundausstattung jedes Kreißsaals. Trotzdem gebe es einen Schatten auf der Erfolgsgeschichte, so das Institut: Denn nachdem die Brüder Chamberlen die Zange Anfang des 17. Jahrhunderts erfunden hatten, wurde sie über drei Generationen von ihnen und ihren Nachkommen eingesetzt, aber vor anderen Geburtshelfern geheim gehalten. Während die Familie der Chamberlens sich dank der Zange Ruhm und Reichtum erwarb, starben andernorts weiterhin Mütter und Kinder, weil das Instrument dort nicht verfügbar war.

Wie eine Krimiserie

Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen des IQWiG haben in einem Artikel für die Fachzeitschrift "Trials" über 60 Fälle zusammengetragen, wie die Ausbreitung von Wissen in der Medizin behindert wurde. Dazu haben sie hunderte von Artikeln aus Fachzeitschriften und andere Quellen ausgewertet, unter anderem aus den Gebieten Psychiatrie, Schmerztherapie, Herz-Kreislauf-Medizin, Hautkrankheiten, Krebstherapie, und Infektionskrankheiten. Entsprechend groß ist auch die Spannbreite der betroffenen Verfahren: Sie reicht von Arzneimitteln über Impfstoffe bis hin zu Medizinprodukten wie Ultraschallgeräten oder Hilfsmitteln zur Wundversorgung. Die Sammlung liest sich wie ein Skizzenbuch zu einer Krimiserie.

Verschweigen ist häufig

In der Wissenschaft wird das Phänomen "publication bias" genannt - "Verzerrung durch selektives Veröffentlichen". Das geschieht laut den Wissenschaftern auf zwei Ebenen. Auf der obersten Ebene blieben ganze Studien unveröffentlicht: So zeige eine Analyse von 90 neu in den USA zugelassenen Medikamenten, dass diese in insgesamt 900 Studien erprobt worden waren. Aber auch fünf Jahre nach der Zulassung seien 60 Prozent dieser Studien noch nicht veröffentlicht gewesen. Auf der zweiten Ebene würden nur ausgewählte Ergebnisse aus Studien publiziert: Forscher müssten heute vor Beginn einer Studie in einem so genannten Studienprotokoll aufschreiben, welche Ergebnisse sie messen wollen und wie diese ausgewertet werden. Vergleiche mit späteren Veröffentlichungen in Zeitschriften zeigten, dass in 40 bis 60 Prozent der Studien Ergebnisse entweder ganz weggelassen oder die Auswertungen geändert wurden. "Dadurch werden Studienergebnisse oft positiver dargestellt als sie es eigentlich sind", sagt Beate Wieseler, Stellvertretende Leiterin des Ressorts Arzneimittelbewertung im IQWiG in einer Aussendung des Instituts.

Das betreffe nicht nur pharmafinanzierte Studien. So zitieren die IQWiG-Mitarbeiter eine Analyse, in der 2000 Studien im Bereich Krebsmedizin nach Geldgebern getrennt ausgewertet wurden. Hier war der Anteil publizierter Studien extrem niedrig: Von den industriefinanzierten Projekten waren 94 Prozent nicht veröffentlicht, aber auch von den durch Universitäten finanzierten Projekten fehlten 86 Prozent. "Auch Zulassungsbehörden sind aufgrund gesetzlicher Regelungen teilweise dazu gezwungen Daten zurückzuhalten", so Thomas Kaiser, Leiter des Ressorts Arzneimittelbewertung.

Schaden für Patienten

Das habe oft Konsequenzen für Patientinnen und Patienten. Es könne einerseits dazu führen, dass - wie im Fall der Geburtszange - vorteilhafte Maßnahmen zu spät eingesetzt werden oder sich zu langsam ausbreiten. Häufiger sei aber, dass gerade schlechte Nachrichten und Misserfolgsmeldungen unveröffentlicht bleiben. "Das hat zur Folge, dass Ärzte und Patienten Therapien einsetzen, die in Wahrheit nutzlos oder sogar schädlich sind", so Beate Wieseler. Forscher schätzten zum Beispiel, dass in den 1980er Jahren verschriebene Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen zehntausende Menschen das Leben gekostet haben, weil frühe Hinweise auf gefährliche Nebenwirkungen nicht veröffentlicht wurden.

Die in "Trials" veröffentlichte Fallsammlung zeigt laut dem Institut, dass die Neigung, unliebsame oder nicht den eigenen Erwartungen entsprechende Ergebnisse unter den Tisch fallen zu lassen, weit verbreitet ist. Die zunehmende Anmeldung von Studien in öffentlichen Registern sei ein wichtiger erster Schritt, so Thomas Kaiser vom IQWiG, das zum Schutz von Patienten gesetzliche Regelungen, damit Ergebnisse aller klinischen Studien zügig und vollständig veröffentlicht werden, fordert. (red)