Eine ungewöhnliche Annäherung: Simon (Vincent Lindon) wird für Bilal (Fiyat Ayverdi) zum Beschützer - und zum unfreiwilligen Flüchtlingshelfer. 


Foto: Polyfilm

Dominik Kamalzadeh traf ihn zum Gespräch.

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Wien - Der 16-jährige Bilal (Fiyat Ayverdi), ein irakischer Kurde, ist auf der Flucht. Eigentlich möchte er nach England zu seiner Verlobten, doch der Sprung über den Kanal misslingt, und er wird in der Hafenstadt Calais interniert. Philippe Liorets Sozialdrama Welcome, das in Frankreich ob seines Themas nicht nur kontrovers diskutiert, sondern auch zum Überraschungserfolg wurde, erzählt die Geschichte einer ungewöhnlichen Annäherung:

Simon, Schwimmlehrer ohne allzu ausgeprägten Sinn für soziales Engagement, entwickelt sich zum väterlichen Beschützer des gestrandeten Bilal. Er möchte ihn abhalten, den Kanal schwimmend zu überwinden; zugleich ist er der Einzige, der ihn dafür trainieren könnte. Der französische Publikumsliebling Vincent Lindon verkörpert Simon mit der Unbestimmtheit eines Mannes, der sich erst über seine Taten definiert.

Standard: Sie waren vom Thema so angetan, dass Sie Regisseur Philippe Lioret zugesagt haben, ohne das Drehbuch zu kennen. Passiert das öfter?

Lindon: Es ist schwierig, so etwas zu erklären. Bei Welcome saß ich mit Lioret im Restaurant, er hat mir die Geschichte des Films erzählt, und ich war einfach begeistert. Er meinte dann, dass es ihm schon lieber wäre, wenn ich das Buch läse. Das tat ich, ohne dass es etwas geändert hätte.

Standard: Ihre Figur steht für eine gängige Haltung: Man sieht an den Problemen von Asylanten vorbei - Simon interessiert sich für Bilal allerdings aus nicht ganz selbstlosen Motiven.

Lindon: Genau das gefällt mir. Ich schätze Menschen, die in ihrem Leben Fortschritte machen, sich weiterentwickeln. Sie sind zunächst unflexibel, schaffen es aber, lockerer, toleranter zu werden. Simon fängt aus nicht ganz uneigennützigen Gründen an, dem Jungen zu helfen - er will seiner Frau imponieren -, und dann wächst er langsam über sich hinaus. Im Grunde bin ich das selbst ein wenig - ich bin auch fähig, mich zu steigern.

Standard: Fiyat Ayverdi, der Darsteller von Bilal, stand erstmals vor der Kamera - hatte Ihr Zusammenspiel auf die Beziehung der Figuren Einfluss?

Lindon: Wir hatten tatsächlich ein ähnliches Verhältnis wie die Figuren. Ich habe als Schauspieler meine Erfahrung eingebracht, er war der Anfänger - ähnlich wie Bilal, der bei Simon schwimmen lernt. Wie im Film hat er von meinem Wissen profitiert, an sich gearbeitet, bis er als Schauspieler seine eigenen Schritte machte.

Standard: Wie gibt man denn seine Erfahrung wieder? Haben Sie eine bestimmte Methode?

Lindon: Ich interessiere mich eigentlich immer nur für zwei Dinge: wie sich die Person bewegt und wie sie angezogen ist. Mir ist das Äußere wichtig, während das Psychologische ganz in den Hintergrund rückt. Im Französischen gibt es den Ausdruck: "Die Kleidung macht nicht den Mönch." Also: Kleider machen keine Leute. Ich behaupte das Gegenteil. Es ist total wichtig, wie man von außen wirkt. Verschiedene Gesten - wie man ein Glas, eine Tasse, seine Zigarette hält, die körperlichen Bewegungen - bestimmen das Erscheinungsbild, an das ich mich halte. Das Innere der Person legt das Drehbuch fest.

Standard: Also ein habitueller Zugang, anders als die amerikanischen Schule?

Lindon: Ja, genau umgekehrt. Ich interessiere mich zunächst überhaupt nicht für die Psyche. In der Bewegung zeigt sich die Psyche.

Standard: Wenn man sich Ihre Rollen vor Augen hält - ich habe Sie das erste Mal in "Betty Blue" von Jean-Jacques Beineix gesehen -, dann fällt auf, dass Sie authentische Männertypen verkörpern, die auch offen für Gefühle sind.

Lindon: Das geschieht intuitiv. Es ist ja auch oft so, dass mich Rollen aussuchen - und nicht umgekehrt. Ich denke aber, dass auch die Regisseure mich in diesen Rollen sehen.

Standard: Hat bei der Entscheidung für "Welcome" auch die politische Agenda eine Bedeutung gehabt?

Lindon: Das ist gewiss ein Film, zu dem man stehen muss, um darin zu spielen. Man kann politisch keiner anderen Meinung sein. Wenn man mir anbieten würde, in einem historischen Film Mussolini oder Pétain zu spielen, müsste ich mich natürlich nicht mit den Personen identifizieren.

Standard: Würde es Sie denn interessieren, einen Faschisten wie Mussolini zu spielen?

Lindon: Nicht unbedingt. Dafür hab ich nicht die Statur. Aber ich hätte gerne Amon Göth in Schindlers Liste gespielt.

Standard: Sie haben öfters mit Regisseuren wie Claude Lelouch, Claude Serreau und Pierre Jolivet gedreht - aus Treue, aus Prinzip oder durch Zufall?

Lindon: Nichts davon, fürchte ich. Für Treue müssen ja stets zwei zustimmen - aber wenn mir das Szenario nicht zusagt, wird daraus nichts. De Niro hat neun Filme mit Scorsese, Redford immer wieder mit Sydney Pollack, Russell Crowe fünfmal mit Ridley Scott gedreht - ich bin da anders.

(DER STANDARD/Printaugsabe, 17.05.2010)