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Es ist der Hauch der Druskininkai umschließenden Kiefernwälder, der noch angereichert wird vom Wasser der umliegenden Seen und der Memel, die hier Nemunas heißt und den Ort umströmt.

Es riecht streng in den langen Gängen, nach einer Mischung aus Mottenkugeln und Keimfreiheit, was den Eindruck nur verstärkt, dieser Ort sei gänzlich einbalsamiert. Als sei hier vor 35 Jahren alles mit einer Formalinlösung behandelt worden: die orangefarbenen Kugellampen, die braunen Cordsofas, die Läufer in grünstichigem Beige.

Ein Hauch von Anachronismus umweht auch die weißbekittelte Dame mit Dutt, an der hier kein Weg vorbeiführt. Inmitten des Flurenlabyrinths hockt sie in einem Kabuff und schreibt mit finstrem Blick und kurzem Bleistift Uhrzeiten und Raumnummern auf kleine Zettel. Dazu die gewünschten Anwendungen, aus einer Liste, die einen endgültig an Schaltzentralen perfider Mächte in alten James-Bond-Filmen denken lässt. Einmal Elektroschlamm gefällig? Oder eine Schlammapplikation in der Mundhöhle?

Als das Sanatorium „Lietuva" 1973 eröffnet wurde, war es der Stolz dieses Ortes, ein Prachtexemplar sowjetischen Kurklinikdesigns. Heute ist der verschachtelte Gebäudekomplex ein Fossil, ein Relikt aus einer Zeit, als die Geplagten und Erschöpften noch Heilanstalten aufsuchten statt Wellness-Tempel. Doch die Tage der mürrischen Matronen und strengen Gerüche sind gezählt: Dem „Lietuva" steht eine Renovierung ins Haus, schon jetzt firmiert es, wie auch andere hiesige Sanatorien, in den Werbebroschüren als „Spa Hotel".

An die frische Luft

Ein frischer Wind weht durch Druskininkai, Litauens bedeutendsten Kurort. Man könnte meinen, das ganze 15.000-Einwohner-Städtchen genese nun an jener klaren Luft, deretwegen auch die Menschen hierher kommen, in den südlichsten Zipfel des Landes. Es ist der Hauch der Druskininkai umschließenden Kiefernwälder, der noch angereichert wird vom Wasser der umliegenden Seen und der Memel, die hier Nemunas heißt und den Ort umströmt. 

Also tunlichst raus aus dem „Lietuva". An die frische Luft. Wo aber das Gefühl, an einem unwirklichen Ort zu sein, nicht schwinden will. Im Gegenteil. Während sich die Nase erholt, stolpern die Augen über allerlei Bauwerk. Denn inmitten grüner Wildnis ruht hier ein wundersames Sammelsurium an Architektur. Dem Anschein nach ein Abstellplatz für ausrangierte sowjetische Filmkulissen. Da kauern Holzhäuschen neben bizarr verzierten Betonbauten, hält eine neogotische Backsteinkirche über die Wipfel hinweg Zwiesprache mit einer russisch-orthodoxen Zwiebelturmkapelle, steht eine klassizistische Villa trutzig neben der organisch geschwungenen Hülle eines neuen Bowling-Centers.

Es sind Spuren einer wechselvollen Geschichte. Schon 1794 hatte der polnische König Druskininkai zum Kurort ernannt, in Anerkennung der Heilkräfte jener salzhaltigen Quellen, denen der Ort - „Druska" heißt Salz - seinen Namen verdankt. Später geriet das Städtchen dann unter russische Herrschaft, labten sich zaristische Beamte an Druskininkais Mineralwasser, das sie tranken oder äußerlich anwendeten, rein oder mit dem Torf der umliegenden Moore zu Heilschlamm vermischt. In den 1920er-Jahren, als der Ort kurzzeitig wieder zu Polen gehörte, traf sich hier Warschaus Hautevolee. Nach Litauens Eingliederung in die Sowjetunion erfolgte schließlich der Ausbau zur sozialistischen Massenheilstätte. Von Druskininkais früherer Bedeutung zeugt heute noch der kleine Bahnhof. Einst war er Endstation einer Abzweigung der Magistrale Warschau-Vilnius-St. Petersburg. Seit 1934 trudelten _hier aus Richtung Weißrussland täglich Züge ein, kamen sie alle bequem per Bahn: polnische Adlige und Offiziere, sowjetische Parteibonzen, Kosmonauten und andere verdiente Werktätige, und zuletzt - nach Litauens Unabhängigkeit 1990 - auch undekorierte Gäste. 75 Jahre lang hatte dieser Ort einen exklusiven Gleisanschluss an die große weite Welt.

Heute fährt kein Zug mehr nach Druskininkai. Vor acht Jahren wurde die Bahnstrecke stillgelegt, nachdem der Transit durch das Reich des weißrussischen Autokraten Lukaschenko zu aufwendig geworden war. Die Trasse durch das dichtbewaldete Grenzgebiet ist zugewuchert, der Schienenstrang entfernt, nur die Bohlen liegen noch, eine fünfzehn Kilometer lange Reihe vermodernder Schwellen zwischen dem alten Osten und dem neuen.

Jeder Dritte ohne Arbeit

Viel hat nicht gefehlt, und Druskininkai wäre damals komplett in einen Dornröschenschlaf gefallen. Mit der Sowjetunion war auch das stark subventionierte Kurwesen in Litauen zusammengebrochen. Hatte Druskininkai um 1970 pro Saison noch bis zu 400.000 Gäste, waren es Ende des Jahrhunderts keine 30.000 mehr. Betten und Becken blieben leer, Gebäude verfielen, Trostlosigkeit machte sich breit, wo zuvor Beschwerden aller Art gelindert werden konnten. 2001 war hier jeder Dritte ohne Arbeit.

Noch heute trifft der herumspazierende Kurgast auf Spuren des Niedergangs. Da nagt der Rost an den Balkonbrüstungen des monströsen Sanatoriums „Nemunas", bekleidet Moos die bröckelnden Säulen der „Vila Kolonada", ragen Sprösslinge aus Mauerwerk und Pflasterung und nähren eine Vorstellung davon, wie die Natur, nach dem Wegzug der letzten Bewohner, sich diese Lichtung alsbald zurückerobert hätte.

Doch es kam anders, dank privater Investoren und eines neuen Tourismus-Konzepts. Hatten hier zuvor viele Einrichtungen am Wochenende geschlossen, setzt Druskininkai nun gezielt auf Wochenendgäste, auf Erholung statt rein medizinische Behandlung, auf ein Freizeitangebot jenseits von Wannen und Wandelhallen. 

Mit Erfolg, wie die Geländelimousinen zeigen, die hier heute vor Hotels und Bädern parken. Es sind die Autos der neuen Oberschicht aus der Hauptstadt Vilnius, die den alten Kurort für sich entdeckt hat. Jährlich kommen wieder rund 150.000 Gäste - vor allem Litauer, daneben Polen und Russen. Aber auch einige Westeuropäer. Nicht zuletzt wegen der günstigen Preise. Und so beträgt die Arbeitslosenquote hier nur noch acht Prozent, mangelt es gar an Fachkräften.

Monument des Wandels ist das 2006 eröffnete Spaßbad, angeblich das größte im Baltikum. Es befindet sich im Gebäude des ehemaligen balneologischen Zentrums, das nun auch noch ein Hotel, eine Diskothek und einen Nightclub beherbergt. Wie ein notgelandetes Ufo liegt der futuristische Rundbau aus Sowjetzeiten am Ufer der Memel, als könne er jeden Augenblick samt seinen planschenden, saunierenden und tanzenden Gästen abheben und über den Kiefernurwald hinweg ins All entschwinden. (Dominik Fehrmann/DER STANDARD/Album/Printausgabe, 15./16./5.2010)