Lorenz-Meyer zur politischen Auseinandersetzung im Netz: "Die netzpolitische Öffentlichkeit, die wir heute haben, bezieht Partei und greift ein, usw., aber sie ist immer noch sehr selbstreferentiell, sehr auf Netzthemen bezogen."

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Kann sich politischer Journalismus und damit politische Öffentlichkeit wesentlich durch das Netz verbessern? Lorenz Lorenz-Meyer, Professor für Online-Journalismus in Darmstadt, behauptet das und bemängelt gleichzeitig ein Defizit bei herkömmlichen Medien, sich konstruktiv mit dem Internet auseinanderzusetzen. Warum Vernetzung und Transparenz den guten alten Objektivitätsanspruch der Qualitätsmedien ablösen sollte und warum es immer noch keinen Perlentaucher für politische Themen gibt, erklärt er im Gespräch mit derStandard.at:

derStandard.at: Sie kritisieren, dass der professionelle politische Journalismus die 'Geschenke des Netzes' nicht für seine Arbeit nützt. Was meinen Sie damit?

Lorenz-Meyer: Im Kern meine ich die Möglichkeit der Vernetzung - der einzelnen Akteure aber auch der Inhalte miteinander. Artikel, Videos, Audio-Files können im Netz in einen Kontext gestellt werden: das betrifft die Vorgeschichte des Artikels aber auch andere Elemente der aktuellen Berichterstattung. Diese beiden Punkte bleiben aber viel zu oft noch auf das eigene Medium isoliert.

Vernetzung könnte jedoch viel mehr bedeuten, z.B. mit anderen Medien, die über das gleiche Thema berichten, oder mit den Quellen, die ich verwende. Ich stelle damit eine Transparenz und Durchlässigkeit her, die das, was ich als Journalist zu sagen habe, in Verbindung bringt, mit dem, was andere Leute zu sagen haben.

Mir ist wichtig, dass die qualifizierten Akteure der politischen Öffentlichkeit, also nicht nur Politiker, sondern auch Aktivisten, Journalisten, Pädagogen und Wissenschaftler ihren schon bestehenden Gesprächsraum über das Internet verbessern können - bzw. schon längst verbessern hätten können.

Vor acht Jahren haben wir in einem Projekt bei der Bundeszentrale für politische Bildung schon darüber nachgedacht, wie man eine internetgestützte Archiv- und Diskussionsplattform zu politischen Themen etablieren könnte. Da sind wir in den Konzepten relativ weit gekommen, aber die Umsetzung blieb aus. Ich denke, dass es jetzt Zeit ist, beim politischen Journalismus anzusetzen.

derStandard.at: Denken Sie dabei an den 'politischen Perlentaucher', von dem Sie auch bei der re:publica sprachen?

Lorenz-Meyer: Ich habe dort zunächst tatsächlich gefragt, warum es eigentlich keinen politischen Perlentaucher gibt, aber ich möchte eigentlich mehr. Der Dienst ist mittlerweile ja auch schon zehn Jahre alt. Was ich daran mag, ist die redaktionelle Intelligenz, die dort einfließt, dass es sich also nicht um Algorithmen handelt, die die Auswahl treffen, sondern um kompetente Redakteure. Das ist auf der einen Seite ein Vorteil und gleichzeitig aber auch eine Schwäche. Das Netz hat nämlich in den letzten zehn Jahren gelernt, die Intelligenz der Community als ganzer besser zu nutzen. Heutzutage haben sich dezentrale Empfehlungsöffentlichkeiten gebildet, z.B. durch Twitter. Und dann gibt es noch Rivva, das wirklich algorithmisch ermittelt, worüber in der deutschsprachigen Twitter- und Blogosphäre am meisten diskutiert wird.

Wir brauchen für den ersten Schritt der Vernetzung im politischen Journalismus einen Dienst, der Perlentaucher und Rivva, Redaktion und Community miteinander verbindet. Ich wünsche mir also eine Aggregationsplattform, auf der sich User relativ schnell orientieren können, was relevante Stimmen (Experten, Aktivisten, offizielle Stellungnahmen) zu einem bestimmten politischen Thema gerade sagen.

Und dann wünsche ich mir auch noch, dass der politische Journalismus insgesamt wieder scharfkantiger wird. Die netzpolitische Öffentlichkeit, die wir heute haben, bezieht Partei und greift ein, usw., aber sie ist immer noch sehr selbstreferentiell, sehr auf Netzthemen bezogen. Es gibt unglaublich wichtige Themen wie die Finanzkrise oder den Afghanistan-Krieg, zu denen von dieser Nachwuchs-Intelligenz eine Stellungnahme gut und zu erwarten wäre, aber es kommt noch nichts. Wir sehen hier vielleicht noch ein politisches Bildungsproblem bei diesen Leuten. Von neuen Formen des politischen Journalismus erhoffe ich mir auch eine Form der Politisierung auf anderen Ebenen.

derStandard.at: Wie sieht es mit der Themenauswahl aus? Hat das Internet die Power, unterrepräsentierte Themen und Fragestellungen gesellschaftlich 'wichtiger' zu machen?

Lorenz-Meyer: Hilft es bis jetzt? Leider nein. Es gibt natürlich Nischen wie die Vorratsdatenspeicherung, wo die Community so gut funktioniert, dass sie Aufmerksamkeit woanders bekommt. Aber es gibt große, große blinde Flecken auch in der Netzcommunity. Die Voraussetzung dafür, dass das Netz wirklich als Agenda-Setter funktioniert kann, ist, dass die Informationsflüsse insgesamt besser werden - und dafür ist diese erste Stufe wichtig: Es muss einem erleichtert werden, politische Diskussionen besser wahrzunehmen.

Man sollte auch fragen: Was ist eigentlich ein Thema? Jeff Jarvis hat auf seinem Blog Buzzmachine geschrieben, dass wir uns von der isolierten Meldung als Gravitationszentrum unserer journalistischen Aktivität verabschieden und stattdessen Themen in ihrer Entwicklung verfolgen sollten. Der einzelne Beitrag fügt sich dann in den Zusammenhang solcher Themen hinein, in denen mehrere Akteure mit ihren Stimmen und Positionen über einen längeren Zeitraum verfolgt werden können.

derStandard.at: Jeff Jarvis spricht ja auch von 'Process Journalism'. Damit meint er, dass sich JournalistInnen in ihrer Arbeit auf Kollaborationen mit den UserInnen einlassen sollen. Was halten Sie von dieser Idee?

Lorenz-Meyer: Ich bin nicht mehr so extrem enthusiastisch über die Möglichkeiten der Partizipation im Rahmen von: 'Ich lass meine Leser mitreden'. Es wird immer wieder viel von der Beteiligung der Leser an den journalistischen Produktionsprozessen und von einer wachsenden Bedeutung des Amateur- oder Bürgerjournalismus gesprochen, und im Prinzip ist das natürlich auch eine feine Sache. Ich glaube nur nicht, dass uns das so viel weiterbringt. Das Internet sollte nicht nur die Leser mitreden lassen, sondern vor allem die relevanten Akteure. Das ist durch eine weitere Vernetzung zu erreichen.
Es mag elitär klingen, aber mein erstes Ziel ist es wirklich, erst mal die Leute zusammenzubringen, die sich professionell mit einem Thema auseinandersetzen.

derStandard.at: Was hat sie dazu bewogen, von dieser Partizipationsidee Abstand zu nehmen?

Lorenz-Meyer: Sie hat einfach nicht so viel bewegt. Ich habe ja schon frühe Experimente mitgemacht, etwa 1997 beim Spiegel das Forum installiert und moderiert, und dann das gleiche noch einmal bei der Zeit. Trotzdem hat man nicht den Eindruck, dass der Journalismus dadurch vorankommt, oder dass diese Diskussionen die politische Öffentlichkeit prägen - das bleiben meist kleine, isolierte Milieus. In den meisten Fällen ist das sehr viel und mühsame Arbeit für die Redaktion. Man sollte jetzt auch nicht darauf verzichten, aber die Foren bewirken eben keine durchgreifenden Veränderungen in den Strukturen des journalistischen Arbeitens.

derStandard.at: Forenbeteiligung wird inzwischen aber sehr wohl als Indikator für die Relevanz einer Meldung betrachtet ...

Lorenz-Meyer: Peter Kruse sprach auf der re:publica ja auch von diesen Aufschaukelungsphänomenen im Netz. Das sind Prozesse, die gar nicht so viel mit der realen Bedeutung eines Themas zu tun haben, sondern sehr emotional getriggert sind, wo ein Soziotop sich in eine momentane Hysterie hochschaukelt. Das bringt aber den politischen Diskurs nicht voran.

derStandard.at: Bürgerliche Medien stehen dafür, einen gesellschaftlichen Gesamtüberblick zu geben. Somit kommt man mit Themen in Berührung, die eine/einen vielleicht intuitiv nicht so interessieren, aber dennoch wichtig sind. Technische Innovation in Bezug auf das Netz erschöpft sich aber meist in Content-Individualisierungsangeboten für die UserInnen. Was heißt das für die politische Meinungsbildung?

Lorenz-Meyer: Ja, das sehe ich auch als große Gefahr, dass man nur noch das geliefert bekommt, was man bestellt hat und was einem genehm ist. Den Hinweis auf Dinge, die uns zunächst mal unbequem sind, brauchen wir unbedingt. Die sehr einseitige Themendiät bei der Netzintelligenz beispielsweise hat dazu geführt, dass wir die historische Pflicht, uns mit der Finanzkrise auseinanderzusetzen, verpasst haben. Wie kommt es, dass ein so wichtiges Thema an der Netzöffentlichkeit vorbeirauscht, dass wir uns nicht kompetent genug gemacht haben, um auch dazu wirklich Stellung beziehen zu können? Darauf gibt es auch noch keine kluge Antwort.

derStandard.at: Ein Online-Medium sollte also weiter ein gesamtgesellschaftliches Angebot machen?

Lorenz-Meyer: Ja, natürlich. Mehr denn je. Und da, wo es nicht nur um die journalistische Einzel- und Eigenleistung geht, sondern auch um die Gesamtschau und die Vernetzung bestehender Inhalte, sehe ich vor allem die öffentlich-rechtlichen Rundfunk-Medien in der Pflicht, weil hier über Partikular- und Verlagsinteressen hinausgegangen werden muss. Private Medien haben immer vor allem ihre eigenen Interessen im Blick.

derStandard.at: Noch mal zu den Anforderungen an politische Öffentlichkeit: Wenn Artikel im Netz in Fluss geraten, weil sie eben immer wieder neu upgedatet, multimedial ausgekleidet und bearbeitet werden können, was heißt das dann für den Meinungsbildungssprozess der LeserIn? Wann trifft er/sie eine Entscheidung?

Lorenz-Meyer: So weit sollte man natürlich nicht gehen. Wenn ein Artikel, den ich erst gestern gelesen habe, heute plötzlich ganz anders aussieht, ist das ein Ausmaß an Verwirrung, das ich auch für ganz ungesund halte. 'Process journalism' könnte aber auch noch etwas anderes sein: Wenn z.B. eine Zeitung ihre Redaktionslinie zu einer bestimmten Frage ändert, und im Netz die Diskussionen, die zu dieser Änderung geführt haben, transparent gemacht werden. Eine solche Darstellung würde unser politisches Verständnis vertiefen. Aber es muss natürlich Konstanten in diesem Fluss geben.

Generell wünsche ich mir einen kantigeren Journalismus, der auch Positionen vertritt und eine politische Richtung hat. Das ist eine Sache, die weniger mit dem Internet zu tun hat, sondern mit Courage und Profil einzelner Redaktionen.

derStandard.at: Also weg vom Dogma der Objektivität im Journalismus?

Lorenz-Meyer: In Journalismus-Lehrbüchern wird ja gern Hanns Joachim Friedrichs zitiert: 'Ein Journalist macht sich mit keiner Sache gemein, auch nicht mit einer guten.' Zum journalistischen Handwerk gehört natürlich, dass man ein Projekt von verschiedenen Seiten darstellt, dass man die beteiligten Parteien alle zu Wort kommen lässt - das würde ich nie in Frage stellen. Ich glaube trotzdem, dass es Bereiche gibt, wo ein Medium durchaus so etwas wie eine Kampagne fahren kann. Wichtig ist, dass man es transparent macht.

David Weinberger, der auch das berühmte cluetrain-Manifesto mitverfasst hat, meint ja: 'transparency is the new objectivity'. Diese Vorstellung, dass wir uns in einem schwebenden Zustand über den Parteien befinden, ist eine Illusion und nicht wirklich gut. Was wir brauchen ist Engagement und Transparenz.

derStandard.at: Was wären denn Beispiele für upgedateten politischen Journalismus im Netz?

Lorenz-Meyer: Es gibt viele Beispiele aus den USA. Eine Facette ist sehr schön exemplifiziert bei Talking Points Memo: Das ist ein Blog, aus dem inzwischen ein kleines Online-Magazin mit Redaktionssitz in New York geworden ist. Initiiert hat das Josh Marshall, ehemaliger Washington-Korrespondent der Zeitschrift Prospect, der nach seiner Kündigung noch unter Bush mit seinem bestehenden Informanten-Netzwerk als investigativer Journalist weitergearbeitet hat und damit großen Erfolg hatte. Er finanziert das Projekt durch Werbung, macht aber auch erfolgreich Spendenaufrufe, um für gewisse Aufträge zusätzliche Leute einstellen zu können. Die Seite beschränkt sich auf wenige Themenfelder, die jedoch über längere Zeiträume intensiv verfolgt werden. Mit kleinen Mitteln und kleinem Team wird hier investigative, professionelle journalistische Arbeit gemacht, was in der deutschsprachigen Blogosphäre bisher kaum vorkommt.

Und ein zweites noch: Frank Westphals schon erwähntes Portal Rivva ist zwar nicht auf Politikthemen spezialisiert, aber eben ein interessantes Modell dafür, wie man Diskussionen im Netz aufbereiten kann. (Die Fragen stellte Ina Freudenschuß, derStandard.at, 5.5.2010)