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Die lautstarke Entblößung der Mühseligen und Beladenen: Susa Meyer und Rainer Frieb in Dea Lohers "Das letzte Feuer".

Foto: APA

Eine Betroffenheitsübung. 

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Wien - Ein Bub wird auf einer holprigen Straße von einem Auto überfahren. Eine ganze Stadtteilgesellschaft fällt daraufhin in ein Loch: Die Eltern - die obendrein die Alzheimer-kranke Mutter pflegen - müssen mitansehen, wie ihre Ehe an den Folgen des sinnlosen Unglücks zerbricht.

Im Wiener Volkstheater, wo Georg Schmiedleitner die Erstaufführung von Dea Lohers Das letzte Feuer inszeniert hat, stehen die grob verschmierten Wände einer Mietskaserne (Bühne: Stefan Brandtmayr) wie die Überreste einer mykenischen Tempelanlage. In Wahrheit regiert bloß ein neuzeitlicher Gott das Chaos dieser Verlierergesellschaft, die hübsch Staub verteilt und in Taubenscheiße festsitzt: der schnöde Zufall, repräsentiert durch die Drehbühne. Auf deren Präsentierteller müssen die Schauspieler nicht nur hilflos agieren, sondern sind sie von Anfang an geliefert.

Damit nicht genug: Eine ganze Stadtteilgesellschaft geht in diesem Woyzeck-Nachschlag im Geiste moderner Sozialpädagogik locker vor die Hunde. Freundschaftsbande lösen sich. Ungeschriebene Solidaritätsverträge werden gekündigt. In den Wohnwaben der Mietshaussiedlungen hausen stille Brüter, chorische Geisterseher, verwahrloste Hundehalter und obskure Bombenleger, die Papiersäcke über dem Kopf tragen. Die Rede ist von Dea Lohers 2008 in Mülheim ausgezeichneter Sozialschmonzette Das letzte Feuer: ein Stück wie eine Xerox-Kopie aus dem Bulletin eines Fachbeauftragten für nagende Zivilisationsschmerzen.

Loher, die einst Georg Büchners Erbe aus den Händen eines Franz Xaver Kroetz empfing, versieht heute höchst sorgenvoll das Amt einer poetischen Ethnografin. Ein Chor tritt stotternd zusammen, um den Hergang des fatalen Unfalls zu erzählen: Personen aus den Schattenplätzen der sogenannten Wohlstandsgesellschaft deklamieren treuherzig, wie "es" dazu hat kommen können.

Kolportage des Schreckens

Schwerer aber noch wiegt der Umstand, dass Schmiedleitner sich für eine Art von Verlautbarungskolportage entschieden hat. Kaum verlangt die Stückdramaturgie nach Momenten der Intimität, nach Innigkeit und Innehalten - schon unterhalten sich die Figuren miteinander in antikisierender Betriebslautstärke. Brav spült die Drehbühne die Protagonisten nach vorn.

Ein Kriegsheimkehrer (Raphael von Bargen), der unbefragbare Zeuge des Tathergangs, haust auf dem Dach eines riesigen Kleiderkastens. Er sieht, wie sich Hundehalter (Thomas Meczele) ausdauernd am Gemächt kratzen, sobald die Rede auf die Flohplage fällt. Jede Figur ist hier ein Ausrufezeichen. Und widersetzliche Typen wie Claudia Sabitzer als Mutter des Unfallopfers lassen immerhin erahnen, was sie könnten.

Lohers Text ist ein weit ausschweifender Traktat über den Zerfall der Gesellschaft. Er möchte den unbehaglichen Zustand abbilden, in dem alte Verabredungen nicht mehr gelten, neue Übereinkünfte mit Blick auf die gesellschaftliche Lastenverteilung aber noch nicht in Sicht sind. In dem die Enkel - horribile dictu - vor ihren Großmüttern sterben.

Vorerst aber muss man sich bloß um das Wiener Volkstheater gewisse Sorgen machen. (Ronald Pohl, DER STANDARD/Printausgabe, 04.05.2010)