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Shlomo Avineri über Zionismus-Begründer Theodor Herzl.

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Wiens Oberrabbiner Paul Chaim Eisenberg.

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Für den Politologen Shlomo Avineri besteht das Vermächtnis Theodor Herzls auch in der Anerkennung der palästinensischen Nationalbewegung. Gudrun Harrer sprach mit ihm am 150. Geburtstag Herzls.

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STANDARD: Was bedeutet Herzl 150 Jahre nach seiner Geburt für die Israelis, besonders für die Jugend?

Avineri: Wenn die Israelis, inklusive der Jugend, ein Symbol für den Zionismus und die Entstehung Israels suchen, dann steht Herzl im Zentrum.

STANDARD: Und wie viel konkretes Wissen über Herzl, seinen Weg, die Entscheidungsprozesse der frühen Zionisten ist vorhanden?

Avineri: Die Frage ist eher die nach der historischen Wirkung. Erstens ist Herzl ein Zeichen für die Einsicht, dass die europäische Gesellschaft und Politik um die Jahrhundertwende in einer tiefen Krise steckte - dass die Hoffnung auf Liberalisierung und Emanzipation in Europa und insbesondere in der habsburgischen Monarchie nicht erfüllt wurde.

Man sieht ganz klar in Herzls Tagebüchern, dass die Wahl von Lueger und der Aufstieg der Altdeutschen und anderer Bewegungen in Wien in den 1890er-Jahren für Herzl ein Wendepunkt waren. Herzl hatte ja seine intellektuelle Karriere mit der Hoffnung begonnen, dass Integration, Emanzipation und Liberalisierung die Lösung sind - für die Juden wie auch für die europäische Politik.

Ob es Palästina sein sollte oder nicht: Es ist richtig, dass im ersten Entwurf eines Judenstaates Herzl nicht klar war, ob es Palästina oder Argentinien sein sollte. Wobei das Argument für Argentinien interessant ist: weit weg von Europa. Weil wir von Europa weg sein müssen, denn das Problem ist Europa, und Palästina ist zu nah zu Europa und der europäischen Politik. Aber innerhalb von ein paar Wochen war es für Herzl dann ganz klar, dass es nur Palästina sein konnte.

STANDARD: Herzl war selbst nicht religiös, heute spielt das nationalreligiöse Element in Israel eine große Rolle. Was würde er zum Staat Israel, wie er jetzt ist, sagen?

Avineri: Gute Frage! In der Mitte zwischen Herzl und heute haben wir ja auch den Holocaust. Den er nicht vorausgesehen hat, aber die Problematik der jüdischen Situation in Europa hat er doch klar erkannt.

Erstens wäre er, glaube ich, vollkommen überrascht, dass heute mehr als sechs Millionen Juden in einem jüdischen Staat leben. Und dass dieser Staat - wie die zionistische Organisation - demokratisch gegründet wurde. Im ersten Zionistenkongress in Basel im Jahr 1897 beschloss man, dass vom zweiten Kongress an Wahlen stattfinden werden. Wahlen heißt Parteien und demokratische Verantwortung vor dem Kongress usw. Da wurden demokratische Institutionen gegründet, bevor ein Staat gegründet wurde. Und das ist bis heute der Unterbau der israelischen Demokratie.

Für Herzl war klar, dass in Palästina Araber leben. Und speziell im Roman Altneuland sieht man, dass er meinte, dass die Araber und andere Nichtjuden, die in diesem Land leben werden, politisch gleichberechtigt sein werden. Ein Held des Romans ist ein arabischer Ingenieur aus Haifa, der auch eine Führungsrolle spielt. Und es erscheint auch eine jüdische rassistische Partei, die ein Spiegelbild von Luegers Partei ist, die will, dass nur Juden Bürgerrechte in dem Staat haben sollen, aber diese Partei verliert die Wahlen.

Liberalismus und Gleichberechtigung sind Hauptpunkte des politischen Denkens Herzls. Was er nicht vorausgesehen hat, ist, dass in Palästina wie im Nahen Osten eine arabische Nationalbewegung auftreten würde, teilweise als Opposition zum Zionismus. Aber das sah niemand voraus, sie entstand ja eigentlich erst im Ersten Weltkrieg.

STANDARD: Und da gab es noch lange keine palästinensische Nationalbewegung.

Avineri: Genau, aber sehr wohl hat Herzl gesehen, dass es eine Hauptherausforderung sein wird, wie der Judenstaat sich gegenüber der arabischen Bevölkerung benehmen wird. Er wusste, was es heißt, diskriminiert zu werden: "Wir waren Minoritäten, wir wurden verfolgt, und das dürfen wir anderen nicht antun."

STANDARD: Heute stehen der Zionismus und Israel an einem Scheideweg mit der Frage: Palästinenserstaat ja oder nein.

Avineri: Die jetzige Debatte in Israel kann man auch als eine um das Vermächtnis von Herzl sehen. Und mutatis mutandis heißt heute das Erbe Herzls nicht nur Gleichberechtigung für die arabischen Bürger Israels, sondern auch die Anerkennung der palästinensischen Nationalbewegung und eine Zweistaatenlösung.

Ein zweiter Aspekt ist der soziale. Herzl war kein Sozialist und sicher auch kein Revolutionär. Aber die sozialen Einrichtungen im Judenstaat, wie er es in Altneuland gesehen hat, waren irgendwie ein dritter Weg zwischen Kapitalismus und Sozialismus. Vom Kapitalismus haben wir die Idee der Freiheit genommen, vom Sozialismus die Idee der Gleichheit und der Gerechtigkeit. Und er nennt auch die soziale Struktur in Altneuland "Mutualismus" . Und in diesem Sinne wurde auch die jüdische Gemeinschaft in Palästina errichtet. Heute steht Israel durch die Globalisierung mehr einem amerikanischen Kapitalismus näher. Aber die Idee, dass ein jüdischer Staat nicht auf brutalem Individualismus basieren soll, sondern solidarisch sein muss, steht sehr stark im Zentrum der politischen Debatte in Israel.

STANDARD: Wenn keine Zweistaatenlösung zustande kommt, ist die Zukunft Israels wohl ein binationaler Staat, der, wenn er demokratisch ist, bald nicht mehr jüdisch sein wird: Ist das das Ende von Herzls Vision?

Avineri: Das wird nicht geschehen. Es gibt nur eine Lösung, und das ist die Zweistaatenlösung. Ob sie nun durch Verhandlungen erreicht wird oder mit einer einseitigen Staatsausrufung, wie sie jetzt von manchen Palästinensern angedacht wird, weiß ich nicht. Aber es ist die einzige Lösung, und sie wird kommen. (DER STANDARD, Printausgabe, 3.5.2010)