Ödön von Horváth ist für sie nicht tot, und die Burgtheater-Ära Peymann war eine "tolle Zeit, genauso ärgerlich wie interessant": Bibiana Zeller, die Schauspielerin wurde, um der Realität zu entfliehen.

Foto: Regine Hendrich
Foto: Regine Hendrich

Bibiana Zeller liebt Literatur und Textlernen und vermisst ihre Bandauftritte in Kottan. Warum sie trotzdem nicht rocken kann (alles Playback) und wann sie keine Glacéhandschuhe trägt, erfragte Renate Graber.

STANDARD: Kottan-Regisseur Peter Patzak sagt, jede Rolle hinterlasse in einem Schauspieler Spuren. Wie tief sind die bei Ihnen? Sie haben seit 1952 hunderte Rollen gespielt.

Zeller: Um nicht zu sagen tausende. Ich sehe das mit den Spuren umgekehrt: Die Rolle schleicht sich vorher in mir ein, nachher lösche ich sie total. Ich merke das oft, wenn ich Kollegen oder Maskenbildner von früher treffe. Sie sprechen mich dann und sagen: Ja erinnerst du dich nicht, wir haben dies und jenes gemeinsam gedreht – aber mir sagt das nichts. Ich habe das längst gelöscht. Beim Lesen des Stückes schon schleicht sich die Figur ein mit der Auseinandersetzung darüber, wie man eingeplant wurde – ich besetze mich ja niemals selber. Vor langer Zeit habe ich es einmal probiert, es ist mir gar nicht gelungen. Auf dieser Rolle hatte Annemarie Düringer ihre Hand drauf. Früher waren die Gebiete noch abgesichert, und ich war ja neu. Man hat mir das schon bei meinem Engagement-Gespräch 1972 gesagt: "Du darfst aber nie jemandem etwas wegspielen." Das Burgtheater war ein geschlossener Kosmos.

STANDARD: Und heute?

Zeller: Es hat sich aufgemacht. Früher gab es hier Schauspieler, die das Theater gehalten haben. Mit Balser, Hörbiger starb ein ganze Welt von Schauspielermacht. Sie konnten sich ausmachen, dass sie Rollen nur mit dem Gesicht zum Publikum spielen. Aslan zum Beispiel: Sein Mitspieler musste sich so stellen, dass man eben ihn nicht versteht, und nicht Aslan nicht versteht, um Gotteswillen. Man hatte die Blickrichtung zum Publikum im Vertrag festgeschrieben. Unglaubliche Privilegien.

STANDARD: Die gibt es nicht mehr?

Zeller: Na geh. Ich rede da von Mumien. Als würde ich Olymp her zitieren, wo die Götter wohnen. Wobei, als ich kam, hatte ich das Glück, von alten Kollegen sehr gemocht zu werden, ich war hier sehr geborgen. Mich stört aber nicht, dass es diese Privilegien nicht mehr gibt. Das erste was ich tat, als ich an der Burg unterschrieben hatte: Ich habe mir Glacéhandschuhe gekauft habe. Weiße.

STANDARD: Für die Regisseure?

Zeller: Weil man mir das ans Herz gelegt hat: ein Burgschauspieler hat Glacéhandschuhe. Käthe Gold und die Wesely haben mich gefragt: "Na, und hast Du keinen Pelzmantel, bitte?" "Nein", sagte ich, und sie: "Also bitte, dann schaff dir so was an."

STANDARD: Und?

Zeller: Niemals. Ich habe später einen geerbt, aber da spielte Pelz keine Rolle mehr.

STANDARD: Die Glacé-Handschuhe tragen Sie noch?

Zeller: Gestern erst habe ich mir in München neue gekauft, die alten waren zerrissen. Nein, heute trage ich sie nicht: Blue Jeans und Glacéhandschuhe?

STANDARD: Oh, Sie tragen Jeans.

Zeller: Ja. Klar.

STANDARD: Ex-Politiker Johannes Ditz sagte unlängst, man müsse viele Gesichter haben im Leben. Wie sieht das die Schauspielerin?

Zeller: Ich möchte Herrn Ditz sagen: Diese Menschen haben uns das Theaterspielen geraubt. Industrie, Management, Politik haben das Theater in sich übernommen. Ich brauche keine vielen Gesichter mehr, ich gehe hin, sage meinen Text, hoffe, dass ich ihn kann, wie das der alte Moser sagt. Das einzige, was uns unterscheidet ist Literatur: Wir Schauspieler dürfen Texte haben und müssen nicht mit unserem eigenen Blödsinn durch die Welt gehen. Ich lerne ja sehr gern Texte. Das Schöne daran ist, dass man Sätze vor sich hat, die von jemand anderem gedacht, formuliert, niedergeschrieben wurden und – wenn man Glück hat – Literatur sind. Deshalb bin ich so gern an diesem Haus: Literatur ist etwas Unbeschreibliches. Etwa Ödön von Horvath, der heute noch so existent ist mit seiner Dichtung. Er ist nicht tot.

STANDARD: Sie spielen gerade die Baby-mordende Großmutter in seinen "Geschichten aus dem Wienerwald". Sie ist für Sie "die schrecklichste alte Frau der Literatur". Was interessiert Sie an ihr?

Zeller: Ich habe schon als Kind gern andere beobachtet, war neugierig auf Schicksale, habe meine Eltern immer gefragt (flüstert): "Wieso schreien die so, wieso sind die so leise, warum grüßen einander die nicht?" Das hat mich wahnsinnig interessiert. Ich habe später am Stoß im Himmel gewohnt, da haben bedeutende Leute oben gewohnt, sehr einfache unten. Da fanden im Stiegenhaus mit seinen wunderbar breiten Marmortreppen Gespräche und Auseinandersetzungen statt, da gab es Unterstellungen, Dramen, Gemeinheiten unglaublicher Natur – alles, was Horvath benutzt und schreibt. Die Großmutter glaubt ja wirklich, uneheliche Kinder seien besser im Himmel aufgehoben.

STANDARD: Die Großmutter gilt als das leibhaftige Gemeine. Haben Sie denn irgend etwas gemeinsam mit ihr?

Zeller: Wissen Sie, ich halte die Verstellung für blöd. Da war einmal ein Schauspieler, dem der Regisseur bei den "Geschichten aus dem Wienerwald" gesagt hatte: "Ja, genau so musst du sein, genauso gemein." Da meinte der Schauspieler zu mir: "Dabei bin ich in Wirklichkeit gar nicht so gemein, hat das wirklich so gewirkt?" Da dacht' ich mir: Doch, es ist jeder so gemein, warum glaubt er dass er nicht so gemein ist? Ist doch lächerlich, wenn einer sagt: In Wirklickeit bin ich viel netter.

STANDARD: Sie wurden Schauspielerin, weil Sie als Kind den Krieg so grausam gefunden hatten und mit der Realität nicht leben wollten?

Zeller: Ja. Das ist meine Überschrift: Flucht aus der Realität. Aber ich bin sehr glücklich, weil ich so eine nette Umgebung in meinem Leben habe.

STANDARD: Flüchten die Zuschauer denn auch vor der Realität, wenn sie ins Theater gehen?

Zeller: Ich weiß nicht, aber zumindest ist es ein Innehalten, ein Abschalten und Weggehen vom Alltag, von den Schnöseln daheim und dem vielen Kramuri überall. Man kann sich im Stück suchen, finden in der Geschichte, das ist doch wunderbar.

STANDARD: Sie haben im Krieg mit Ihren Eltern am Rudolfsplatz in der Wiener Innenstadt gewohnt; sie hätten Inhaftierte schreien gehört, haben Sie einmal in einem Interview erzählt. Aus der Gestapo-Zentrale am Morzinplatz?

Zeller: Ja, das war um die Ecke. Und es gab Keller in unserer Umgebung, da waren Leute eingesperrt, man hat sie durch die vergitterten Fenster zur Straße hin gehört. Ich, das kleine Mädel, saß manchmal dort am Gehsteig, und beobachtete, wie oben die Leute vorbeigingen – als wäre nichts geschehen. Ich habe das meinen Eltern erzählt, bei meinen Freundinnen hatte ich Schwierigkeiten. Ich hatte jüdische Freundinnen und solche aus unglaublichen Nazi-Familien, meine Freundin Trude etwa. Als die Russen Wien befreiten, ist ihre Familie nach Innsbruck geflohen, aber wir haben uns doch so geliebt. Ich habe sie dann ab und zu in Tirol besucht. Ja, so hab' ich halt gelebt, damals.

STANDARD: Sie wären aber auch gern Architektin geworden, früher.

Zeller: Ja, aber nicht ernsthaft genug. Architektur interessiert mich aber bis heute sehr.

STANDARD: Und haben Sie ein Lieblingsgebäude in Wien?

Zeller: Eigentlich das Burgtheater.

STANDARD: Ich mag die Otto-Wagner-Kirche am Steinhof so sehr.

Zeller: (lacht) Steinhof, die Kirche, die wunderschönen Pavillons, wir haben dort oft gedreht. Ich glaube, ich habe am Steinhof schon fast jeden Pavillon bewohnt.

STANDARD: Zurück zu Horvath und dem Theater. Die "Geschichten aus dem Wienerwald" sind bei der Premiere jüngst total durchgefallen. Wenige Tage danach haben Sie's wieder gespielt: großer Jubel, letztlich applaudierten die Schauspieler dem Publikum. Selten, oder?

Zeller: Ich habe so etwas noch nie erlebt, auch meine Kollegen nicht. Man hat uns liebevoll angeschaut und uns leben lassen. Wir waren völlig überrascht, es war einmalig.

STANDARD: Ist eigentlich das Lampenfieber vorher oder das Warten auf die Reaktion des Publikums beim Verbeugen schlimmer?

Zeller: Diese unmittelbare Kritik gehört doch zu unserem Beruf. Mein Lampenfieber hält sich in Grenzen. Ich sag' mir: Jetzt tu dir nichts an, was kann jetzt noch sein? Also gut, sterben muss man noch, das ist Realität, das kann man auch nicht spielen, das muss man machen. Aber im Theater? Ich kann ja nachher wieder nach Hause gehen, wenn's schief geht.

STANDARD: Sie haben Peymann sehr geschätzt. Die "Krone" ließ vor der Premiere von Bernhards Heldenplatz die Burg in einer Fotomontage in Flammen aufgehen.

Zeller: Ja, und ich wurde böse angepöbelt auf der Straße, wie ich mich dafür hergeben könne, unter so einem Direktor arbeiten können.

STANDARD: Wie haben Sie reagiert?

Zeller: Pokerface. Peymann hat geöffnet, alles auf den Kopf gestellt, ganz Wien verärgert, aber auch die größten Feste gegeben. Bei seinem Abschied war der Volksgarten ein Festplatz, es kamen so viele junge Paare mit ihren ganz kleinen Kindern – da habe ich gemerkt: Theater wird nicht sterben. Schon durch Peymann, er war ja ein absolut Besessener. Und wenn man besessen ist, ist man nicht ganz bei Trost, kann also auch nicht Einblick, Überblick, Verständnis haben. Heulend hat er immer gesagt: "I-i-i-i-ch", er war ein Egomane, er dachte, alles ist er, alles gehört ihm, alles hängt von ihm ab. Mich hat er ununterbrochen so gemocht. Traf ich ihn auf der Stiege, hat er sich an die Wand gedrückt, also ob nicht Platz genug wäre, deutend: Da kommt die Göttin dieses Hauses. Aber zum Spielen hat er mir nie was G'scheites gegeben.

STANDARD: Im Sportstück von Jelinek haben Sie mitgespielt ...

Zeller: Ja, Einar Schleef hat inszeniert. Peymann hat grandiose Leute geholt, oh Gott. Ja, es war eine tolle Zeit, toll im Sinne von genauso ärgerlich wie interessant. Die Wiener hassten ihn, aber wer sonst kann das schon so ins Publikum tragen? Die Burg war voll, der "Heldenplatz" jahrelang ausverkauft.

STANDARD: Stichwort Heldenplatz: Sie haben Thomas Bernhard ja schon in den 1960ern kennengelernt.

Zeller: Ja, ich war mit Ur-Bernhard in Maria Saal. Dort haben wir unter Leitung von Herbert Wochinz, mit dem wir später in Porcia in Spittal an der Drau spielen sollten, in der Scheune Theater gespielt. Wir führten den Bernahrd-Einakter "Die Erfundene" auf, ein Einpersonenstück, das sie mir in die Hand gedrückt hatten. Bernhard hat hier und da die Proben besucht – Wochinz hat ihn immer wieder hinaus geschmissen, es war nur Streit und Kampf mit Bernhard. Grad bei den Frühstücksmarmeladen war es friedlich, wir haben dort ja alle gemeinsam gewohnt und gefrühstückt.

STANDARD: Sie spielen auch oft Handke, mögen ihn?

Zeller: Sehr. Auch kein Angenehmer. Aber: Ganz Nette haben am Theater nichts verloren, oder?

STANDARD: Im ganzen Leben nicht.

Zeller: Das schreib' ich mir auf: Nette Menschen haben im Leben nichts verloren und am Theater schon gar nicht.

STANDARD: Ganz berühmt hat Sie Ihre Rolle in Kottan gemacht. Sie drehen im Sommer einen neuen Kottan – ihr Film-Ehemann Lukas Resetarits alias Kottan ist jetzt auch schon ein bisserl überwutzelt.

Zeller: Ja, wir alle sind das; viele sind auch gestorben. Aber mit dem Kottan ist das etwas Besonderes. Wo ich auch hinfliege: Alle kennen Kottan, sprechen mich darauf an. Im neuen Film haben wir uns in einem kleinen Schrebergarten niedergelassen, müssen aber furchtbar mit der Bank verhandeln, damit wir das nicht verlieren. Die paar Sätze, die ich habe: ganz wunderbar.

STANDARD: In Kottan haben Sie mit Gusti Wolf eine Band gegründet, "die Girlieband erfunden", wie Patzak sagt. Singen Sie wieder?

Zeller: Nein. Leider. Dabei war es so schön. Als ich zuletzt "Live is life" gedreht habe, wollte der Regisseur, dass ich Rockmusik singe. Ich sagte: "Aber ich kann doch nicht singen, beim Kottan war das doch Playback." Ich habe nur den Mund auf und zu gemacht, das aber habe ich monatelang gelernt, sodass ich perfekt im Rhythmus war. Und jetzt regen sie sich auf, dass ich nicht rocken kann. Und dass ich falsch sing'.

STANDARD: Gibt es eine Rolle, die Sie nie hätten spielen wollen, aber gespielt haben?

Zeller: Ja. Das ist lieb, dass Sie mich das fragen. Die Helga Merlicek in Transdanubia, ein Dialektstück, das beim Heurigen spielt. Da hab ich mir den Kopf zerbrochen, wem ich diese Rolle zurückgeben kann, aber ich habe keinen Weg raus gefunden. Und dann war es der rasendste Applaus, den ich je bekommen habe. Es war an jedem Abend so eine Lust und so eine Freude, das zu spielen. Welch Glück, dass ich immer gespielt habe, was man mir in die Hand gedrückt hat. So habe ich ja auch begonnen: Alles, was die anderen nicht spielen wollten, habe ich gespielt. Mein erster Auftritt an der Burg war in "Haben" von Julius Hay. Da bin ich eingesprungen, weil die Gusti Wolf krank war. Die Rolle: Einfach über die Bühne gehen, stumm.

STANDARD: Letzte Frage: Worum geht‘s im Leben?

Zeller: Live is life. Ja?

(Renate Graber, DER STANDARD, Printausgabe, 30.4.2010)