"Ziggurat" (2007-2008): Künstler Scott Hocking hat in den Ruinen einer vor 20 Jahren stillgelegten Fabrik Millionen Parkettholzstäbe gefunden und zu einer pyramidalen Skulptur geschichtet.

Foto: Hillberry Gallery

Wien - Gänsefuß, Storchschnabel und Hundskamille erobern das Zentrum Detroits. Nachts streunen Kojoten durch die Stadt. Da, wo ganze Viertel zusammenbrechen, entstehen reine Naturlandschaften: Wiese und Wald. Wildromantisch? Wohl eher Verwilderung: bitteres Zeugnis des Niedergangs. Die einst blühende Industriestadt, die "Motor City" Detroit, kämpft seit 1950 mit drastisch schrumpfenden Einwohnerzahlen. Von einst 1,8 Millionen Menschen auf 900.000. 80 Prozent der Bevölkerung sind Afroamerikaner; die Mittelschicht lebt an der Peripherie hinter der "8 Miles" -Grenze - ein Begriff, den Regisseur Curtis Hanson 2002 in seinem Filmdrama mit Rapper Eminem bekannt machte.

Die Rassenunruhen von 1967 setzten der Stadt heftig zu; kleine und große Wirtschaftskrisen taten ihr Übriges. Hohe Arbeitslosigkeit, viel Kriminalität. Zum Beispiel Versicherungsbetrug: Um die verfallenen Hütten noch irgendwie zu Geld zu machen, werden sie angezündet. Mehrere Dutzend Mal pro Tag rückt die Feuerwehr aus.

Und in den klassischen Straßenkreuzern, die an die goldenen Zeiten bei Ford, General Motors und Chrysler erinnern, sitzen heute Zuwanderer, um an einen längst verschütteten amerikanischen Traum anzuschließen. Für die dänische Fotografin Corinne Vermeulen, die in der Geisterstadt künstlerische Heimat gefunden hat, posieren sie stolz vor den aufpolierten Karossen. Vermeulen dokumentiert auch Re-Ruralisierungsprozesse. Arbeitslose haben begonnen, die leeren Flächen zu bestellen. Selbstversorger mitten in der Stadt, die allerdings in Zelten und Wohnwägen wohnen, weil die Häuser zu desolat sind.

Dort trotzdem Leute anzusiedeln sieht Mitch Cope auch als künstlerische Aufgabe: Im Rahmen seines Power House Projects hat er für 1900 Dollar ein vollkommen ausgeweidetes Haus - Banden ließen sogar Kupferrohre und elektrische Leitungen mitgehen - gekauft. Als autonomes mit Wind- und Solaranlage versorgtes Haus, soll es Nachahmer motivieren.

Götterhain in Industrieruine

Bei einer Tour durch die Industrieruinen sollte man sich Scott Hocking anvertrauen. Der Künstler sammelt hier nicht nur die "Reliquien" für seine urbanen Schreine, sondern inszeniert in den Überresten des Industriezeitalters, in denen Asbest und anderes Baugift zusammen mit Regenwasser bereits Stalaktiten formen, symbolisch aufgeladene Fotografien: Alte auf Säulenstümpfe gestellte TV-Apparate werden zum modernen Götterhain, und aus Millionen Parkettholzstäben erwächst eine Pyramide. Wachsen aus der Asche alter Tempel neue erfolgreiche Dynastien? Diese und andere Projekte (u. a. von Ellen Cantor, Matthew Barney, Jesper Just) haben Detroit nicht nur zum Thema, sondern nutzen es als Material - bisweilen auch nur im übertragenen Sinn.

Inmitten des gläsernen, leider etwas knappen Ausstellungsraums am Karlsplatz trifft nun eine desolate, aber sich aufrappelnde Stadt auf ein quirliges Zentrum; treffen Ruinen und Unkraut auf schön gefärbelte Fassaden und englischen Rasen. Die Idee zur begonnenen Ausstellungsserie war, "anhand von fünf Städten die fundamentalen Veränderungen dieser Welt - soziale, kulturelle, ökonomische - darzustellen", sagt Kunsthallendirektor Gerald Matt. Beirut, Lagos und Saigon sollen beispielsweise folgen. "Stadt als Metapher für den Wandel der Welt."

Detroit steht aber nicht nur für das Ende des Industriezeitalters, sondern auch für einen Neuanfang. Viele Künstler haben ihre Ateliers an den Lake Erie verlegt. Platz gibt es genug und mit dem Detroit Institute of Arts auch ein wichtiges Museum. Allein Galerien und kaufkräftige Klientel sitzen woanders.

Etwa in New York. Der abgefuckte Detroiter Charme scheint dort, wo man lange Zeit nur die lokale Szene hofierte, auf Interesse zu stoßen. John Corbin, der lange Zeit im Big Apple wohnte, erzählt von einem Galeristen, der wohlwollend bemerkte: "Ah, du bist ein Detroiter Künstler!" Detroit ist also am Weg, eine verwertbare Marke am globalen Kunstmarkt zu werden.

Corbin: "Wenn man am Boden aufgeschlagen ist, kann es nur noch aufwärts gehen." (Anne Katrin Feßler, DER STANDARD/Printausgabe, 28.04.2010)

Bis 31. 5.