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Reinhart:"Wir haben den Sieg in Osteuropa voreilig ausgerufen."

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Warum Osteuropa noch immer gefährdet sei und auch fiktive Staaten pleitegehen können.

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STANDARD: Sie haben gemeinsam mit dem Harvard-Ökonomen Kenneth Rogoff mehr als 300 Fälle von Staatspleiten seit dem 14. Jahrhundert untersucht. Ist Ihnen einer besonders in Erinnerung geblieben?

Reinhart: Der bizarrste Fall war die Pleite von "Poyais" , einem im 18.Jahrhundert frei erfundenen Land. Der Söldner und Geschäftsmann Gregor MacGregor begann zur Zeit, als die meisten Staaten Lateinamerikas die Unabhängigkeit erlangten, in London damit, Anleihen für ein fiktives Land namens Poyais zu verkaufen. Der Verkaufspreis lag sogar über dem ersten Emissionspreis für chilenische Anleihen! Am bemerkenswertesten war aber die argentinische Staatspleite 2001. Nicht nur weil es der größte Fall in der Geschichte war, sondern weil 2001 alles zusammenkam: Staatspleite, Bankenkrise, Währungskollaps.

STANDARD: Sie schreiben, dass Staaten wie die USA, Neuseeland und Thailand, im Gegensatz etwa zu Griechenland, nie in eine Schuldenkrise gekommen sind. Warum?

Reinhart: Es gibt sehr wenige Länder, die in ihrer Geschichte nie in eine Schuldenkrise geraten sind, vieles ist bislang auch wenig erforscht. Nach Erscheinen unseres Buches haben wir etwa erfahren, dass Neuseeland seine Schulden im Inland einmal sehr wohl nicht bedienen konnte. Thailand ist sicher weiterhin ein Beispiel für ein Land, das nie in eine Schuldenkrise geraten ist. Im Gegensatz zu Griechenland haben die thailändischen Regierungen stets eine gewisse Budgetdisziplin bewahrt.

STANDARD: Haben Sie ein Rezept dafür gefunden, was Regierungen tun müssen, damit ein Land nicht bankrottgeht?

Reinhart: Eine der zentralen Erkenntnisse unseres Buch ist, dass die Ursprünge für die meisten Staatsschuldenkrisen nicht in schlechten, sondern in guten Zeiten gelegt werden. Die Überschuldung einer Gesellschaft beginnt meist in Boomzeiten, wenn jeder bereitwillig sein Geld verleiht, genau dann müssen Regierung Disziplin beweisen. Die zweite Lehre ist, dass Regierungen nicht nur ihre eigenen Schulden im Auge behalten müssen, sondern auch jene des Privatsektors. Denn nach einer Krise tendieren die privaten Schulden dazu, öffentlich zu werden.

STANDARD: Was sollen Regierungen gegen die Überschuldung des Privatsektors tun?

Reinhart: Es gibt sinnvolle Regulierungsinstrumente, um Kreditbooms zu verhindern. Aber den Zentralbanken geht es heute vornehmlich darum, die Preisstabilität zu erhalten und Rezessionen zu verhindern, den Schulden des Privatsektors wird wenig Beachtung geschenkt, was ein großer Fehler ist.

STANDARD: Staatspleiten kommen ihrer These zufolge fast immer in Wellen. Demnach sind wir noch nicht über den Berg, und Griechenland war erst der Anfang?

Reinhart: Das ist vorstellbar. Wir haben den Sieg in Osteuropa zu voreilig ausgerufen. Die Aufmerksamkeit richtet sich nun auf Griechenland, aber in Osteuropa besteht weiterhin Grund zur Sorge. Ebenso beängstigend sind die Fälle Irland und Spanien.

STANDARD: In den letzten Monaten hat sich die Lage in Osteuropa doch entspannt. Und der Schuldenstand der Region ist niedriger als jener Westeuropas.

Reinhart: Ja. Aber Sie dürfen den Schuldenstand einer westlichen Industrienation niemals mit den Schulden einer aufstrebenden Volkswirtschaft vergleichen. Das Baltikum mag eine niedrigere Auslandsverschuldung als Spanien und Großbritannien haben. Aber auch die Schuldentoleranz der baltischen Staaten ist weit niedriger.

STANDARD: Was meinen Sie mit Schuldentoleranz?

Reinhart: Seit dem Zweiten Weltkrieg hätten mehr als die Hälfte der aufstrebenden Volkswirtschaften, die in Osteuropa, Asien und Südamerika pleitegingen, die EU-Maastricht Kriterien erfüllt. Das zeigt, dass es nicht unbedingt hohe Schulden braucht, um bankrottzugehen. Es gibt Länder mit kleineren, volatilen Einnahmequellen, die keinen guten Ruf an den Kapitalmärkten genießen und entsprechend schneller umfallen. (DER STANDARD, Printausgabe, 21.4.2010)