Ulrich Thielmann zum Thema Steueroasen: "Ich kann gar nicht glauben, dass diese Praxis in Europa überhaupt noch existiert und als ethisch legitim betrachtet wird."

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Ulrich Thielemann sieht im Interview mit derStandard.at einen Trend zur Moralisierung der Märkte. Die Zivilgesellschaft setze die Unternehmen unter Druck, so der Vizedirektor des Schweizer Instituts für Wirtschaftsethik. Allerdings bedürfe die Wirtschaft einer Regulierung, die sicherstelle, dass verantwortungsvoll geführte Unternehmen nicht auf der Verliererseite stünden. Steueroasen hält er für längst überholt. Die Fragen stellte Regina Bruckner.


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derStandard.at: In der Finanzwelt werden zum Teil schon wieder exorbitante Boni bezahlt. Sie hingegen sehen eine "Moralisierung" der Märkte. Wie kommen Sie denn darauf?

Ulrich Thielemann: Bei den Bankern sucht mal da wohl vergebens, zumindest im Moment noch. Man muss aber auch sehen, dass praktisch alle großen Unternehmen, übrigens auch Banken, seit ungefähr zehn Jahren auf ihren Websites deklarieren: "Wir agieren ethisch verantwortungsvoll." Das ist durchaus eine neue Entwicklung, in der viel Dynamik steckt. Die Unternehmen exponieren sich damit. Die Verlautbarungen sind auch nicht mehr so plump, wie sie ehemals waren. Man kann hierin durchaus Anzeichen eines beginnenden Ethikwettbewerbs erblicken.

derStandard.at: Sind Sie nicht sehr optimistisch, wenn Sie sagen, die alte Marktgläubigkeit ist fast passé?

Thielemann: Natürlich ist die Marktgläubigkeit immer noch in den Köpfen vieler Entscheidungsträger verankert. Doch es gibt da auch diese andere Seite, der sich die Unternehmen kaum entziehen können: Die Zivilgesellschaft setzt die Unternehmen moralisch unter Druck. Zudem gibt es eine Moralisierung der Märkte aus innerem Antrieb, nämlich die Sozialunternehmen. Dies ist eine Idee, die immer mehr Anhänger findet und vor allem durch Friedensnobelpreisträger Muhammad Yunus verbreitet wird. Diese Sozialunternehmen unterscheiden sich von herkömmlichen Unternehmen dadurch, dass sie zwar ausdrücklich Gewinne erzielen, aber keine Gewinnmaximierung betreiben wollen. Sie wollen primär Sinnvolles für eine gute gesellschaftliche Entwicklung leisten und damit zugleich selbsttragend wirtschaften. Das ist auch Teil dieses Paketes der Moralisierung der Märkte.

derStandard.at: Auf der anderen Seite: Korruption in großem Stil bei Siemens, MAN, General Motors. Dann die UBS, die ihre Kunden beim Steuerhinterziehen berät. Was soll man davon halten, wenn sich viele Unternehmen ethisch verantwortungsvolles Wirtschaften auf die Fahnen schreiben?

Thielemann: Der Witz ist, dass wir uns solche Fragen stellen und damit auch einen gewissen moralischen Druck auf die Unternehmen ausüben. Die Unternehmen laden uns ja durch ihre Ethikdeklarationen geradezu dazu ein, sie auf die Widersprüche zwischen diesen Deklarationen und ihren Geschäftspraktiken hinzuweisen. Darin besteht gerade die ethische Dynamik der Moralisierung der Märkte. Das ist ein offener Prozess, an dem wir alle teilhaben und sicher mehr teilhaben könnten. Ich mache das vielleicht einmal deutlich am Global Compact der UNO. Die Initiative ist vielleicht zu wenig bekannt, auch wenn sie beinahe schon zehn Jahre alt ist. Kofi Annan hat damals die Unternehmen gefragt und damit ethisch herausgefordert: Ihr wollt doch sicher verantwortungsvoll handeln, die Menschenrechte achten oder für sie eintreten. Viele Unternehmen haben unterschrieben.

derStandard.at: Papier ist geduldig.

Thielemann: Die NGOs - also die Vertreter der Zivilgesellschaft - stehen der Sache sehr kritisch gegenüber. Ganz zu recht. Sie sagen: Das ist doch im Wesentlichen Blue-Washing - nach der blauen Farbe der Uno, die für die Menschenrechte steht. Ja, ganz richtig, aber der Global Compact gibt ihnen doch überhaupt erst die Möglichkeit, Blue-Wash-Awards zu vergeben. Das kann für ein Unternehmen ganz schön peinlich werden, wenn es der Scheinheiligkeit überführt wird. Da bekommt der eine oder andere CEO vielleicht Angst, auf einem Podium zu sitzen, weil er dort rechtfertigen müsste, was sich nicht rechtfertigen lässt. Und es ist dann gar nicht so unwahrscheinlich, dass er es abstellt oder gar nicht erst tut. Mir scheint, hier liegen durchaus beachtliche Chancen der Revitalisierung dessen, was wir mal soziale Marktwirtschaft genannt haben. In dieser dreht sich nämlich nicht alles um den Gewinn. Da geht man anständig miteinander um.

derStandard.at: Wer überzeugt die Aktionäre und die Boni-Hungrigen unter den Mitarbeitern?

Thielemann: Man muss natürlich schon ganz klar auch die Grenzen dieser Entwicklung sehen. Natürlich bedarf die Wirtschaft der Regulierung, und zwar einer solchen, die sicherstellt, dass das verantwortungsvoll geführte Unternehmen nicht auf der Verliererseite steht. Oder dass der CEO ausgewechselt wird bzw. es zum Übernahmekandidaten wird. Das geht nur durch die Regulierung des Kapitalmarktes. Der Zu- und Durchgriff gieriger Investoren auf die Unternehmen muss vermindert werden. Teilweise findet man tatsächlich ganz vorsichtige Hinweise, dass die Unternehmensvertreter ganz gerne eine Regulierung hätten, um aus dieser Klemme herauszukommen. Sie stehen ja unter dem doppelten Druck der Zivilgesellschaft einerseits, der Aktionäre, denen keine Rendite zu hoch sein kann, andererseits. Zusätzlich der Wettbewerbs durch Unternehmen, die auf Geschäftsintegrität pfeifen. Es muss sichergestellt werden, dass das verantwortungsvoll geführte Management nicht der Dumme ist.

derStandard.at: Immerhin haben Sie ja in der Schweiz mit der UBS gewissermaßen ein Vorzeigeinstitut, das sich vom Saulus zum Paulus wandeln will. Die Bank will auf Gewinne verzichten, die durch unfaire Geschäftspraktiken erzielt werden. Zum guten Samariter kann sie wohl schon auf Grund ihres Geschäftsmodells nicht werden?

Thielemann: Na ja. Mir scheint eher, bei der UBS besteht ein nicht unerheblicher Konflikt zwischen dem Vorsitzenden des Verwaltungsrates, Alt-Bundesrat Kaspar Villiger - der durchaus ermutigende Signale gibt -, und den Bankern. Die hängen natürlich immer noch am Gewinnprinzip, nach dem Motto: je höher die Gewinne, desto besser für alle. Demgegenüber muss man klipp und klar sagen: Verantwortungsvolle Unternehmensführung heißt Abkehr vom Prinzip der Gewinnmaximierung. Diese ist unter gar keinen Umständen rechtfertigungsfähig. Das liegt an der Maximierung, daran, dass alles daran gesetzt wird, dass die Gewinne so hoch wie möglich sind. Dann bleibt für ethische Überlegungen und Rücksichtnahmen definitionsgemäß kein Platz mehr. Und bitte nicht denken, jetzt sollten die Unternehmen auf die Erzielung von Gewinnen verzichten. Sie sollen einfach nicht maximieren. Der Gewinn muss ein Glied zurücktreten. Sonst sind alle Ethikdeklarationen von Vornherein scheinheilig.

derStandard.at: Wer soll die Stimme der Moral erheben?

Thielemann: Alle Beteiligten. Das Management, das Kapital - leider ziemlich unwahrscheinlich. Realistischer Weise passiert dies durch die Akteure der Zivilgesellschaft. Das sind wir alle, als Bürger, die wir ja auch Konsumenten und in der Regel auch Mitarbeiter sind. Etwa, indem wir kritisch fragen: Was macht ihr denn da? In diesem Unternehmen arbeite ich aber nicht gerne, da geht es ja nicht mit rechten Dingen zu. Oder: Von diesem Unternehmen kaufe ich nicht mehr. Auch hier bedarf es der Unterstützung der Moralisierung der Märkte durch Regulierung, etwa durch mehr Transparenz über die ethische Qualität der Geschäftspraktiken.

derStandard.at: Sehen Sie auch, dass sich die Zivilgesellschaft ihrer Aufgabe bewusst ist?

Thielemann:
Ja, durchaus. Die Zivilgesellschaft ist wacher geworden. Das hat vielleicht auch damit zu tun, dass die Unternehmen immer radikaler geworden sind und damit
immer mehr Anlass zur Kritik geben. Früher oder später kommen die Unternehmen wohl gar nicht umhin, der alten Marktgläubigkeit, die davon ausging, dass Gewinnmaximierung für alle gut ist, den Rücken zu kehren. Das glaubt man heute nur noch in gewissen Volkswirtschaftsseminaren.

-> Weiter zu Teil 2: Ulrich Thielemann über Ethik-Vorbilder und eine nötige Neuorientierung des Wirtschaftsstudiums

(Fortsetzung; zurück zu Teil 1)

derStandard.at: Im Wirtschaftsstudium meiner Tochter steht Ethik nicht im Studienplan. Wer soll die Kriterien formulieren und wo gibt es Vorbilder?

Thielemann: Das ist ein echtes Problem. Die Marktgläubigkeit hat durch die Krise einen deutlichen Dämpfer erhalten. Mehr aber auch nicht. Sie wird den Praktikern - dem Managernachwuchs, den Beratern der Politik und den Bürgern - durch die Ökonomik nach wie vor vermittelt. Erstens in der BWL, indem man dem Nachwuchs praktisch nur sagt, wie die Gewinne zu maximieren sind. Womit man implizit die Botschaft ausgibt, dass dies ethisch schon in Ordnung sei - was es natürlich nicht ist. Zweitens durch die Volkswirtschaftslehre: Da wird entweder behauptet, wenn der Markt regiert, dann dient das dem Wohle aller. Oder es wird die Botschaft ausgegeben, dass wir uns den Marktkräften und -mächten anzupassen haben, womit diese mit den Weihen des ethisch Legitimen ausgestattet werden, statt sie zur Verantwortung zu ziehen. Wir brauchen eine Neuorientierung des Wirtschaftsstudiums. Und diese Neuorientierung sollte sich zunächst dadurch vollziehen, dass Wirtschaftsethik flächendeckend auf die Lehrpläne kommt. Es geht dabei um eine methodisch disziplinierte ethische Reflexion des Wirtschaftens. Im Moment haben wir noch eine sozusagen wilde, voll mit ethisch unhaltbaren Vorurteilen und Beschönigungen.

derStandard.at: Das wäre dann sozusagen der Hort, von dem aus das neue Mantra "Ethik zahlt sich aus" beschwört würde ...

Thielemann: Das steht zu befürchten. Leider läuft dieses Mantra darauf hinaus, dass man diejenige "Ethik" betreibt, die sich langfristig auszahlt. Man passt sich also opportunistisch an die "Erwartungen" derjenigen an, die einen bei der Gewinnmaximierung stören könnten. Dies ist keine Ethik, die den Namen verdient. Gegen eine echte ethische Neuausrichtung der Ökonomik sträuben sich vor allem die Volkswirte, die immer noch glauben, ihre sehr spezielle Sicht der Dinge sei "wertfrei" und somit über alle ethischen Zweifel erhaben. Viele Betriebswirte hätten gegen eine "Ethik", die sich reibungslos in das Gewinnmaximierungsdenken einfügt, vermutlich keine Einwände. Nur wär's dann keine Ethik, sondern allenfalls eine Scheinethik.

derStandard.at: Ethisch verantwortungsvolles Wirtschaften leisten sich mittlerweile einige Großunternehmer, die beweisen, dass man damit auch ganz rentabel sein kann.

Thielemann: Möglicherweise lässt sich dies so sehen, wobei man da immer kritisch bleiben sollte, ob hier denn die Etikette "ethisch verantwortungsvoll" zu Recht vergeben wird. Gehen wir einmal davon aus, so würde ich hier die Idee verdienter Reputation ins Spiel bringen: Möglicherweise ist man gerade darum erfolgreich, weil man verantwortungsvoll wirtschaftet. Diese Möglichkeit besteht durchaus: Die Konsumenten kaufen dort gerne ein, und die Mitarbeiter setzen sich für das Unternehmen ein, weil es verantwortungsvoll agiert und mit allen Beteiligten anständig und fair umgeht. Erst wenn wir den Erfolg so deuten können, ließe sich von einem Ethikwettbewerb sprechen. Und natürlich wäre der Erfolg nicht der maximal mögliche Erfolg, aber ein im besten Sinne anständiger Erfolg.

derStandard.at: Sie haben sich schon einmal mit der Finanz-Branche angelegt und sind gegen die Steueroase Schweiz - das Thema hat ja Österreich mindestens ebenso stark betroffen - aufgetreten. Sie haben damit quasi eine Schweizer Lawine losgetreten. Was haben Sie in dieser Auseinandersetzung in Sachen Ethik gelernt?

Thielemann: Ich habe gelernt, dass sich in den öffentlichen Auseinandersetzungen nur sehr wenige die Mühe machen, diese Fragen ethisch durchzudeklinieren. Dies gilt auch für einige Wissenschaftler, die sich öffentlich äußern. Sie argumentieren eigentlich vorurteilsbehaftet, und das ist keine gute Wissenschaft. Ich kann ein paar deutliche Worte dazu sagen: Die Verweigerung des fiskalischen Informationsaustausches ist eine Art Diebstahl am Steuersubstrat der Wohnsitzstaaten. Ich kann gar nicht glauben, dass diese Praxis in Europa überhaupt noch existiert und als ethisch legitim betrachtet wird. (derStandard.at, 19.4.2010)