Zur Person:

Bert Ehgartner (48) ist freier Medizinjournalist u.a. für profil und DER STANDARD, Sachbuchautor und Dokumentarfilmer.

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Bert Ehartner wehrt sich in seinem Buch (315 Seiten, 16,99 Euro) gegen Standardisierungen in der medizin. "Ein Mensch ist kein Auto", sagt er.

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Standard: Warum ist der Untertitel dieses Buches "Handbuch zur Selbstverteidigung"?

Ehgartner: Ich wollte Menschen, die relativ naiv in unser Medizinsystem hineingeraten, eine Art Überlebenshilfe geben. Wer mit den Gesetzen des Systems nicht vertraut ist, tappt leicht in Fallen. Generell ist es so, dass die Menschen zwar immer gesünder und tendenziell älter werden, die Angst der Gesellschaft vor Krankheiten aber parallel dazu steigt.

Standard: Haben Sie eine These?

Ehgartner: Wir haben viele Player im Gesundheitssystem, die jeder für sich und aus ihrer Perspektive vor Krankheiten warnen, neue Risiken orten und kommunizieren. Das alles führt zu einer großen Verunsicherung für Laien. Mit dem Buch habe ich einen Rahmen geschaffen, um die vielen Eigeninteressen offenzulegen, die hinter der Angstmache stehen.

Standard: Es werden sehr viele Krankheiten gestreift. Wie profund sind die Informationen?

Ehgartner: Ich sammle meine Informationen seit vielen Jahren, beobachte, in welche Richtung sich unser Gesundheitssystem entwickelt. Wir leben in einer Gesellschaft, die sich übertrieben vor der Welt der Keime fürchtet. Ich denke, Krankheiten haben eine Funktion, können einen positiven Effekt haben, gehören zum Leben.

Standard: Wie bilden Sie sich Ihre medizinische Meinung?

Ehgartner: Ich lese fast täglich aktuelle Studien, sehe, ob sie den Aussagen früherer Arbeiten widersprechen, schaue mir an, wie sie gemacht sind und wie sehr die Financiers vielleicht versucht haben, Resultate besser dazustellen, als sie sind. Besonders interessant ist in den letzten Jahren die Entwicklung bei den Volkskrankheiten Diabetes, Bluthochdruck oder Arteriosklerose in den Fokus geraten. Es gibt es viele Rückschläge, bei Therapiekonzepten, die lange Jahre als gesichert galten

Standard: Welche Rückschläge?

Ehgartner: Man hatte optimale Zielwerte für eine gute Einstellung des Blutzuckers oder des Cholesterins definiert, die deshalb für optimal gehalten wurden, weil sie den Werten topfitter Jugendlicher entsprechen. Aber es stellte sich heraus, dass sich der Mensch nicht wie ein Auto einstellen lässt.

Standard: Für jedes dieser Themen gibt es Experten. Wie behalten Sie als Nichtmediziner den Überblick?

Ehgartner: Gerade als Außenstehender kann ich den Medizinbetrieb aus der Vogelperspektive beobachten und bin weniger betriebsblind. Dazu verlasse ich mich auf unabhängige Forschungsinstitutionen wie etwa die Cochrane Collaboration oder die Plattform "arzneitelegramm". In Österreich leistet das Ludwig-Boltzmann-Institut für Health Technology Assessment gute Arbeit, und wir haben eine wachsende aktive Public Health Community. Sie fungieren als eine Art unabhängige Polizisten im System. Gäbe es sie nicht, würde das System bald alle Sozialbudgets auffressen, denn das System kennt keine Selbstbeschränkung.

Standard: Haben Sie ein Beispiel?

Ehgartner: Bei Cholesterin, aber auch Blutzucker sind die Grenzwerte so tief angesetzt, dass fast alle Menschen als krank diagnostiziert werden. Diese Dynamik ist problematisch, weil der Nutzen einer vorbeugenden Behandlung von Gesunden oft nicht erwiesen ist und so getan wird, als gäbe es keine Nebenwirkungen.

Standard: Wirkt, als wären Sie gegen Medikamente ...

Ehgartner: Das wäre eine vollkommen falsche Interpretation. Bloß ist der Nutzen dort am größten, wo die Menschen tatsächlich krank sind, also Symptome haben.

Standard: Für Laien ist die Einschätzung aber schwierig?

Ehgartner: Wer Zusammenhänge kennt, kann sich besser orientieren, und genau das ist auch ein Ziel dieses Buches. So wie es überhaupt ein Plädoyer für mehr Selbstvertrauen in den eigenen Körper ist. Krankheit ist ein Teil des Lebens. Bei aller Angst vor Keimen vergisst man, dass wir ein hochkompetentes Immun- system haben, das seit Milliarden Jahren mit Keimen fertig geworden ist. Wir wären Zauberlehrlinge, würden wir glauben, dass man mit Antibiotika oder Fiebersenkern das System ungestraft manipulieren kann.

Standard: Im Buch geht es auch um Impfungen. Sind Sie dagegen?

Ehgartner: Nein, Impfungen sind tolle Errungenschaften, aber in den letzten Jahren ist eine Art Inflation bei der Impfstoffentwicklung ausgebrochen. Sie werden zu zum Teil unverschämt hohen Preisen als Versicherungspolizzen gegen Krankheit verkauft, und deshalb wurden Impfungen in der Pharma-branche zu einem enormen Wachstumsmarkt. Das ist bedenklich, weil jede Impfung einen Eingriff ins Immunsystem darstellt. Beispiele wie die Schweinegrippe oder die Impfungen gegen Gebärmutterhalskrebs (HPV) zeigen, wie gut Panikmache funktioniert.

Standard: Sie plädieren also für Skepsis. Was heißt das praktisch?

Ehgartner: Nicht jedem Arzt sofort glauben, sich Zeit für Entscheidungen lassen, eine zweite Meinung einholen, im Internet recherchieren und Ärzte damit konfrontieren. Medizin ist ein weites Feld, eindeutige Einschätzung ist selten. Es gibt immer Optionen.

Standard: Wird Gesundheit wirklich von den Playern des Systems entschieden?

Ehgartner: Natürlich nicht, es gibt bei uns keine Institution, die steuernd eingreift. Wissen über Er- nährung wird von den Nahrungsmittelkonzernen als TV-Werbung vermittelt. In den Schulen gibt es keinen Gesundheitsunterricht.

Standard: Ein Kapitel ist Selbstheilungskräften gewidmet. Da verdrehen Schulmediziner die Augen.

Ehgartner: Da geht es um den Placeboeffekt, also die Macht der Vorstellung, die tatsächlich Krankheit beeinflussen kann und Selbstheilungskräfte aktiviert. Das nützen Alternativmediziner recht geschickt und sind deshalb auch so erfolgreich. Jeder gute Arzt sollte sich der Macht des Placeboeffekts in jedem Moment bewusst sein.

Standard: Ihr Rat?

Ehgartner: Sich einen guten Hausarzt als Vertrauten und Wegweiser bereits in guten Zeiten suchen, jemand, der die ganze Familie über viele Jahre betreut und kennt und beraten kann, wenn Krankheiten eines Tages schwerwiegende Entscheidungen notwendig machen. (Karin Pollack, DER STANDARD Printausgabe, 19.4.2010)