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Trauerfeier am Dienstag im polnischen Parlament.

Foto: EPA/RADEK PIETRUSZKA POLAND OUT

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Das von russischen Soldaten bewachte Wrack der polnischen Präsidentenmaschine: Warten auf Flugschreiber-Protokolle.

Foto:AP Photo/Mikhail Metzel

Verschwörungstheorien haben Hochkonjunktur in Polen. Seit dem Absturz der polnischen Präsidentenmaschine im westrussischen Smolensk brodelt die Gerüchteküche. "Wer ist schuld an der Tragödie?" , ist die zentrale Frage. Solange die Protokolle der beiden Flugschreiber nicht vorliegen, wird jedes Indiz, das auf einen Schuldigen hindeuten könnte, in das Spinnennetz der Verdächtigen eingewoben. Die größte Umschlagbörse für Verschwörungstheorien ist zurzeit die Straße vor dem Warschauer Präsidentenpalast. Sie musste für den Verkehr gesperrt werden, da sich immer mehr Menschen in die Kondolenzbücher eintragen möchten. Daneben werden die neuesten Gerüchte ausgetauscht.

Am Dienstag hat es nun auch die Deutschen kalt erwischt. Denn die neueste Verschwörungstheorie sieht die Deutschen als Komplizen der Russen. Vor dem Präsidentenpalast schwenkt eine grauhaarige Frau die deutsche Bild-Zeitung vom Montag: "Es ist nicht zu glauben!" , ruft sie in die Runde. "Die Deutschen wollen Kaczynski die Schuld für den Absturz in die Schuhe schieben!" Viele drehen sich um. "Was? Wieso das denn?" , fragen die einen fassungslos, während andere sofort zustimmen: "Das ist doch wieder typisch deutsch."

Die grauhaarige Alte mit dem rosa Mohairmützchen übersetzt die Bild-Schlagzeile: "Zwang Polens Präsident den Piloten zur gefährlichen Landung im Nebel?" Sie wird rasch unterbrochen "Das ist doch klar, dass die Deutschen jetzt wieder mit den Russen gemeinsame Sache machen" , empört sich ein 50-Jähriger. "Die können gar nichts anderes - die Teilungen Polens, dann der Hitler-Stalin-Pakt, die Ostsee-Pipeline! Und jetzt auch noch der Tod unseres Präsidenten!"

Hitler und Stalin

Ein distinguiert aussehender älterer Herr mit gestutztem weißem Bärtchen doziert: "Mein Herr, Sie haben völlig recht. War es nicht so, dass die Deutschen nur ‚zurückgeschossen‘ haben, als sie unser Land 1939 überfielen? Und war es nicht so, dass die Russen uns nur ‚zur Hilfe eilen‘ wollten, als Stalin seine Panzer über unser Grenze rollen ließ?" Viele nicken.

Tatsächlich ist das Stereotyp, dass sich Deutsche und Russen gern zusammenschließen, um den Polen etwas Schlechtes anzuhängen, in Polen weit verbreitet. Es taucht immer dann auf, wenn sich die Polen übergangen oder diskriminiert fühlen. So ist auch die Entstehung der ersten Verschwörungstheorie am Unglückstag zu erklären. "Schon wieder die Russen!" , stöhnten viele Polen auf, als sie am Samstag vom Absturz der Präsidentenmaschine im westrussischen Smolensk hörten.

Wer hat ein Interesse daran?

Noch war nicht klar, was eigentlich genau passiert war, da stand für viele schon fest, wer die Schuldigen waren. Denn in der Logik der Verschwörungstheorien zählt nicht die Frage: "Was ist passiert?" , sondern: "Wer könnte ein Interesse daran haben, dass das Flugzeug des polnischen Präsidenten abstürzte?"

Da Lech Kaczynski lange für diese zweite Gedenkfeier in Katyn gekämpft hatte - immerhin hatten die Premierminister Russlands und Polens bereits am Mittwoch eine Katyn-Gedenkfeier am selben Ort abgehalten - und er mit Sicherheit eine scharfe antirussische Rede halten wollte, schien die Antwort auf die Frage klar. Russland würde von der nicht gehaltenen Rede Kaczynskis am meisten profitieren.

In Polens Medien bemühen sich alle, die Spekulationen über die Schuldigen aus den Sendungen herauszuhalten. Doch die Frage "Wie kam es zu dem Absturz?" wird immer drängender. Da, wie es schien, weder technisches Versagen noch ein Fehler der Piloten infrage kamen, mussten die russischen Fluglotsen schuld sein. Inzwischen scheint allerdings auch deren Schuld ausgeschlossen werden zu können, trotz angeblicher Verständigungsprobleme wegen mangelnder Englischkenntnisse, von denen eine russische Zeitung berichtete.

Die Lotsen hatten den Piloten rechtzeitig und mehrmals vor den schlechten Wetterbedingungen und dem dichten Nebel in Smolensk gewarnt und empfohlen, entweder nach Minsk oder nach Moskau weiterzufliegen oder aber nach Warschau zurückzukehren. Dass die erfahrenen Piloten dann trotzdem viermal zu landen versuchten, ist so ungewöhnlich, dass eine Intervention des Präsidenten oder der Generäle möglich erscheint. Doch dann bliebe die Frage nach dem Schuldigen unbeantwortet, der doch ein Interesse an dem Absturz haben müsste. Und es gäbe auch keine Verschwörung gegen Polen. (Gabriele Lesser aus Warschau, DER STANDARD, Printausgabe, 14.4.2010)