Das politische Angebot erschöpft sich de facto in der "Alternative" zwischen extrem rechts und verlottert links.

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Republikanisch-demokratischen Werten zutiefst verpflichtete Stimmbürger Ungarns stürzen die bevorstehenden Parlamentswahlen in ein schier unlösbares Dilemma:

Eine Stimme für die rechtsradikale Jobbik mit ihrem paramilitärischen Ausleger der Ungarischen Garde kommt ja ab ovo nicht infrage. Dasselbe gilt für den sicheren Sieger, die rechtspopulistische Fidesz: Nicht nur, weil sich ihr rechter Rand im selben Milieu bewegt wie die ungarischen Nazis oder wegen der byzantinistischen Allüren von Parteichef Orbán, sondern wegen ihrer antiparlamentarischen Rhetorik, ihrer ideenlosen Obstruktionspolitik der vergangenen Jahre, vor allem aber, weil sie ihr konkretes Programm verheimlicht.

Manche liebäugeln angesichts des drohenden Rechtsrucks - die Fidesz könnte eine Zweidrittelmehrheit an Mandaten erhalten - mit den Sozialisten: Aber in acht Regierungsjahren haben sie das Land abgewirtschaftet, regelrecht vergammeln lassen. Zuletzt war vor ihren langen Fingern nicht einmal mehr sicher, was bis dahin niet- und nagelfest schien. Gegen eine taktische Wahlentscheidung spricht auch, dass sich die Genossen nie ihrer KP-Vergangenheit stellten, sie die Stasi-Archive verschlossen hielten, den Aufbau einer demokratischen Linken systematisch blockierten: Zeit, der MSZP klare Botschaften zu senden, sie für ihr Tun abzustrafen.

Dem Demokratischen Forum (MDF) könnte man die politischen Purzelbäume der letzten Jahre noch nachsehen: mit Würgen sogar die einstige Bemerkung der Vorsitzenden Ibolya Dávid verjähren lassen, sie verstehe nichts vom Fußball, wo es doch nur darum gegangen wäre, antisemitische Aktionen in Fußballstadien klar zu verurteilen. Aber unter dem dünnen Lack einer konservativen, wirtschaftsliberalen Führung befinden sich unberechenbare, intrigante und gierige Funktionäre, denen niemand eine vernünftige Politik zutraut.

Und die Liberalen? Sie, die als verfolgte Oppositionelle die Wende so unbeirrt vorbereitet hatten, um dann 20 Jahre lang penetrant freien Markt und Privatisierung zu predigen (und dabei stets im Nahbereich staatlicher und kommunaler Fleischtöpfe zu finden waren), kandidieren nicht einmal. Eiskalt ließ der SZDSZ ihre treuen, urbanen, gesellschaftsliberale Werte vertretenden Wähler im Regen stehen, lieferte sie zynisch dem Hohn der sie krankhaft hassenden Rechten aus: Virtuoser hätte man das liberale Projekt nicht denunzieren können.

Bleibt noch die Möglichkeit, für eine hoffnungsvolle, junge Formation namens "Politik kann anders sein" zu stimmen: Allein das aus humanistischen Versatzstücken, schön klingenden Slogans, Öko-Firlefanz und durchaus ernstzunehmenden Elementen zusammengeschusterte Programm läuft Gefahr, an der Fünf-Prozent-Hürde zu scheitern. Und viele fürchten, eine Stimme für die LMP gehe ja doch nur verloren.

Ministerpräsident Gordon Bajnai, der im letzten Jahr "aus Patriotismus" Feuerwehr spielte, das Land mit einer Rosskur erstaunlich beherzt und ruhig konsolidieren konnte, steht - wie angekündigt- nicht zur Wahl: Dabei hätte eine eigene Partei eben wegen Bajnais für Ungarn so ungewöhnlichen pragmatischen Herangehensweise, der wohltuenden Langeweile, die er ausstrahlt, vielleicht den Sprung ins Parlament geschafft.

Natürlich, viele Bürger in den etablierten europäischen Demokratien stehen oft vor einem ähnlichen Dilemma: Aber was die Sache in Ungarn verschlimmert, ist, dass die Demokratie schwach ist, weiten Teilen der Bevölkerung ein kathartisches demokratisches Erlebnis fehlt, eine offene Zivilgesellschaft - im Gegensatz zur gut vernetzten, hegemonialen rechtsradikalen - nicht existiert. Den Wahlen fernzubleiben oder ungültig zu wählen, wäre hier das falsche Signal.

Das armselige politische Angebot, aber auch die fehlende Nachfrage nach Alternativen illustrieren prägnant jene Sackgasse, in die sich Ungarn - Elite wie Gesellschaft - selbst hineinmanövriert hat. 20 Jahre nach der Wende sind freie Wahlen nicht Termin für eine demokratische Rechenschaftslegung, eine Entscheidung über eine zukünftige Politik, sondern zu einem "Tag der Abrechnung" bzw. zu einer reinen Nazi-Zählung verkommen.

Dabei ist der Vormarsch der Extremisten - die pittoresken Bilder marschierender Schwarzhemden werden uns in den kommenden Tagen wohl kaum erspart bleiben - nur die Spitze des Eisbergs: Viel erschreckender ist die völlige Lethargie einer desorientierten und perspektivenlosen Gesellschaft, die weder ihrer eigenen verlotterten Elite noch der extremen Rechten etwas entgegensetzt.

Die Wahlen werden so auch nicht mit einer schallenden Ohrfeige für die ganze politische Klasse enden, sondern obszönerweise mit der spektakulären Stärkung einer Fraktion und noch dazu mit dem Einzug der verschworenen Feinde der Demokratie in das Budapester Parlament. Die Rechte - populistische wie extreme - ist aber nicht deshalb im Aufwind, weil die ungarische Gesellschaft so rechts wäre, sondern weil der Großteil der Bürger Ungarns das Terrain ihrer "res publica" längst freiwillig geräumt hat, jedes politische Engagement mit Korruption und Kriminalität gleichsetzt.

Die Lage scheint hoffnungslos. Aber das war sie - zumindest für die Ungarn - schon immer, und doch hat sich das Land stets irgendwie erholt. Natürlich um den Preis, dass mit dem "Fortwurschteln" nichts aufgearbeitet wurde, man rasch wieder mit denselben Problemen konfrontiert war. Auch wenn es abgedroschen klingen mag, kann die nun ans Ende kommende und die ihr nun sicher folgende Misere - die vielleicht nicht so arg sein wird, wie die Kassandras einer endlich kollabierenden, undemokratischen Linken unken - aber auch eine Chance für den Aufbau einer republikanisch gesinnten, antifaschistischen Zivilgesellschaft sein.

Schöne Worte, denn eher ist wohl mit einer schleichenden Berlusconisierung Ungarns zu rechnen: TV-Sender besitzt Orbán zwar noch keine, aber fürs Erste dürfte es ja reichen, dass ein inzwischen gewichtiges, rechtes Zeitungsimperium ihm vollkommen hörig ist. (DER STANDARD, Printausgabe, 10.4.2010)