Alle 800 Meter eine Hauptstraße, Parkplätze und viel Platz rund um die Hochhäuser, hier in Shenzhen nördlich von Hongkong.

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Shenzhen/Wien - "Ein Hochhaus am Tag, alle drei Tage ein Boulevard" war das Motto von Shenzhens Baumeistern in den 90ern. Heute reicht auch das nicht mehr. 1979, als Shenzhen Chinas erste Freihandelszone wurde, hatte die Stadt 94.000 Einwohner. 2008 waren es knapp neun Millionen - und es werden täglich mehr.

Shenzhen liegt nördlich von Hongkong, in einer Gegend, die Geografen Pearl River Delta nennen. Wirtschaftstreibende nennen sie das "Industriegebiet der Welt". Chinas Elektronikartikel, vom Plastikspielzeug bis zum Computerchip, fluten von dort Richtung Europa und Nordamerika. 23 Städte wachsen hier zu einem Siedlungsraum zusammen, in dem derzeit 60 Millionen Menschen leben. Bis 2025 sollen es 100 Millionen sein - und alle brauchen Wohnungen.

Begeisterungsfähigkeit und Entscheidungsfreiheit

Einige davon will Architekt Rainer Pirker bauen. Sein Wiener Büro rpaX arbeitet seit Jahren an Projekten in China. "Dort kann man Dinge tun, die man hier schon lange nicht mehr machen kann. Es gibt noch Begeisterungsfähigkeit, der Architekt hat mehr Entscheidungsfreiheit", sagt er. Für Shenzhen hat er Teile einer Universität entworfen. Er entwirft aber nicht Häuser, sondern auch Städte. In Guangming, gleich nordwestlich von Shenzhen im Pearl River Delta gelegen, will er eines von drei Stadtentwicklungsgebieten bebauen. Die Stadtregierung will dort einen Cluster für die Hightech-Industrie anlegen, internationale und nationale Firmen sollen sich dort ansiedeln. 42 Quadratkilometer wird er groß sein, 200.000 Menschen sollen dort einmal leben.

Pirkers Entwurf dafür, das Guangming New Town Center, gewann im Februar den Goldenen Bullen, den Architekturpreis der Guangdong-Provinz, in der das Pearl River Delta liegt. "Den Chinesen fehlen neue Konzepte für den Städtebau", meint Pirker. "Sie greifen auf Rezepte zurück, die im Amerika der 60er-, 70er-, 80er-Jahre benutzt wurden, das bringt Probleme. Ökologische, ökonomische und soziale."

Die Städte würden für Autos gebaut: achtspurige Straßen, daneben Parkplätze, groß wie Fußballfelder. Generell gelte: getrennte Stadtteile für getrennte Funktionen; hier wohnen, da arbeiten, dort einkaufen. Die Folgen: ein enormer CO2-Ausstoß und soziale Segregation. Städte werden riesig, U-Bahn oder Busse unattraktiv bis unmöglich. Breite Straßen teilten die Stadt wie Mauern. Die Probleme seien noch gar nicht abzuschätzen, meint Pirker: "So etwas hat die Welt noch nicht gesehen, wir wissen noch gar nicht, was da auf uns zukommt."

"Leiden an Zeitmangel"

"Chinas Städtebau leidet nicht an einem Mangel an Ideen oder Kreativität, sondern an Zeit", sagt Roger Chan, Professor für Städtebau an der Universität Hongkong. "Alles muss sehr schnell gehen. Oft wird gehandelt, ohne lange an die Konsequenzen zu denken." Westliche Unternehmen und Architekten könnten mit Know-how helfen. "Die Städte müssen verdichtet werden", sagt Chan: Da die lokalen Regierungen den Städtebau selbst finanzieren, müssten sie versuchen, aus Bauland möglichst viel Geld zu lukrieren.

Schwieriger wird der Ausbau des öffentlichen Verkehrs: "Die Autoindustrie zu fördern ist Teil des Fünfjahresplans der Regierung. Es ist also in ihrem Interesse, viele breite Straßen zu bauen." Seit 2009 werden in China weltweit die meisten Autos verkauft, etwas mehr als 730.000 pro Monat. Gesättigt ist der Markt noch lange nicht: Während 2009 in den USA auf 1000 Menschen 800 Autos kamen, waren es in China 20.

Pirker hat gemeinsam mit dem Wiener Verkehrsplanungsbüro Axis für seinen Stadtteil ein spezielles Verkehrssystem entwickelt: Die Hauptstraßen führen außen vorbei, nur eine Straße führt in beiden Richtungen hindurch. Alle anderen Straßen sind Einbahnen, die von den Hauptstraßen abzweigen und wieder zu ihnen zurückführen. Gleichzeitig ist kein Haus mehr als 300 Meter von einer Straße entfernt. Das Konzept widerspricht den strengen Vorschriften der Behörden, die im Raster von 800 Metern eine Hauptstraße vorschreiben. Pirker hofft, es als Pilotprojekt trotzdem bauen zu können.

Für die Bebauung hat er sich am chinesischen Hofhaus orientiert: Die Gebäude werden aus Zellen zusammengesetzt. Jede Zelle hat ihren eigenen "Hof", einen offenen Raum, durch den Licht ins Innere kommt. So muss um die Häuser nicht so viel Platz für Belichtung gelassen werden. Die Zellen können zu verschiedensten Strukturen gestapelt werden. "Diese Häuser sind flexibel", sagt Pirker. "Das funktioniert besser als geplante Strukturen."

Pirker ist nicht der einzige österreichische Architekt, der in China baut. Baumschlager und Eberle errichteten 2005 in Peking die Wohntürme Moma und betreiben als einzige österreichische Architekten ein Büro im Land. Auch Coop Himmelb(l)au hat schon in China gearbeitet.

Georg Pendl, Präsident der österreichischen Architektenkammer, sieht Bauen in China kritisch - schon wegen der Größe der Aufträge. "Es ist nicht gut, wenn einer allein mit seinem Bleistift über 5000 Menschen entscheidet", sagt er. Außerdem müssten Architekten immer auch die politischen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen mitdenken, in denen ihre Bauten entstehen: "In China arbeiten die Menschen auf den Baustellen unter mehr als fragwürdigen Bedingungen. Jeder Bau dort ist ein Aufputz für ein Land ohne Menschenrechte." (DER STANDARD; Print-Ausgabe, 6.4.2010)